Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
pflücken, marschierte Cuihua mit ihrer Reisetasche ins Tal und sang vor sich hin.
Alljährlich pflückten die Dorfbewohner einige Wochen lang Tee. Während ich an ihrer Seite arbeitete, sah ich, wie unvergleichlich schön die Berge waren. Auf den Hängen blühten Tausende von Azaleen, und wenn die Sonne über den Himmel zog, glühten die Gipfel und die Täler in der Ferne, als wären sie in frisches Blut getaucht. Seit uralten Zeiten wurde der Tee, der in diesen Bergen geerntet wurde, als jährlicher Tribut an den Kaiser entrichtet. Und traditionell wurde er nur von Frauen gepflückt. Ich stand vor Sonnenaufgang auf und kletterte mit den anderen hoch in die Berge hinauf. Jede von uns trug einen Bambuskorb für die geernteten Blätter. Wir nahmen nur die drei obersten Blätter von jedem Zweig. Dank meiner Geschicklichkeit konnte ich mit beiden Händen pflückten, was die anderen erstaunte. Wir arbeiteten den ganzen Tag, doch am Abend hatte jede von uns abends nur etwa ein Pfund Blätter geerntet.
Nach fünf Tagen Teeernte wurde ich immer schwächer. Ich blieb weit hinter den anderen zurück, wenn wir zu den Teesträuchern hochstiegen, und musste mich tagsüber oft hinsetzen und ausruhen. Am Samstag blieb ich im Bett, anstatt mich zur Arbeit zu melden. Keiner vermisste mich. Ich blieb auch am nächsten Tag im Bett, ohne mir etwas zu kochen, und wurde noch schwächer. Dann ging mir das Wasser aus, doch ich war zu krank, um zum Brunnen zu gehen, und litt an ersten Austrocknungserscheinungen. Wann würde wohl jemand bemerken, dass ich fehlte? Cuihua hätte am Sonntag zurückkommen sollen, doch sie war noch nicht da. Auch am Montag erschien sie nicht. Dienstagnachmittag schaute Yiping vorbei. Er hatte mich seit über einer Woche nicht gesehen und war entsetzt über meinen Zustand. Er hatte geglaubt, ich sei wie Cuihua nach Hause gefahren.
Eilends ging er zum Brunnen, um frisches Wasser zu holen. Ich war so durstig, dass ich um einen Schluck bettelte, bevor es abgekocht war. Er sprach mir gut zu und bat mich abzuwarten. Dann schürte er den Herd, kochte Wasser für mich ab und bereitete mir einen Reisbrei zu. Nachdem ich ein bisschen Wasser getrunken hatte, schaffte ich es, mich im Bett aufzusetzen. Ich hatte zwar kaum Appetit, aber er überredete mich zu essen, setzte sich zu mir auf den Bettrand und fütterte mich mit warmem Reisbrei. Als er mir den Nacken stützte und mir in die Augen sah, spürte ich, wie meine Zuneigung zu ihm wuchs. Ja, ich hatte mich verliebt. Und es war ein wunderbares Gefühl. Gleichzeitig wusste ich, dass es verboten war. Nachdem ich gegessen hatte, setzte er sich auf einen Hocker und las mir Gedichte vor. Dann ging er nach Hause, doch am nächsten Tag kam er wieder vorbei, um nach mir zu sehen.
Ich machte mir Sorgen um Cuihua, die immer noch nicht zurückgekehrt war. Andererseits genoss ich es, mehr Zeit mit Yiping verbringen zu können, der mich gesund pflegte.
Die Art, wie er mich ansah, die Auswahl der Gedichte, die er mir vorlas, und dass er so lange wie möglich bei mir in der Hütte blieb – all das verriet mir, dass auch er sich in mich verliebt hatte. Schweigend saß ich auf einem Hocker und lauschte den Worten, die er mir vorlas, sah, wie behutsam er die Seiten umblätterte, wie er den Arm oder auch nur einen Finger bewegte, um etwas besonders zu unterstreichen. Der Klang seiner Stimme betörte mich. Er las in meinen Augen, was ich empfand, und ich hörte seine Gefühle aus seinem Vortrag heraus.
Doch keiner von uns wusste, wie es weitergehen sollte. Eine wachsende Zuneigung zwischen uns war doppelt gefährlich, denn wir stammten beide aus einer schwarzen Familie. Wenn man entdeckte oder auch nur vermutete, dass wir die verbotenen Grenzen zu einer Liebesbeziehung überschritten hatten, würde unsere Strafe weitaus härter ausfallen als bei Kindern aus roten Familien. Wir hatten schon gehört, dass Nachkommen roter Familien sich in den Bergen ineinander verliebt, geheiratet und sich als Bauern niedergelassen hatten. Aber sie rechneten selbstverständlich damit, dass sie die Ersten sein würden, die in die Stadt zurückkehren durften, sobald sich der politische Wind wieder gedreht hatte. Würden wir uns jedoch in den Bergen niederlassen, konnten wir die Hoffnung begraben, hier jemals wieder wegzukommen.
Manchmal malten Yiping und ich uns gemeinsam aus, wie es wäre, wenn wir zu unseren Familien zurückkehren und vielleicht sogar studieren könnten. Eines Tages würde unsere Zeit
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