Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
wenn man mit Verletzungen hier wegkäme, würde sich jeder gebildete Jugendliche in den Bergen hinter einen Traktor stellen! Einen gebrochenen Fuß oder ein gebrochenes Bein nimmt man gern in Kauf, wenn man dafür nach Hause kommt. Aber leider klappt das nicht, denn die wissen das. Deshalb warten sie ab, bis wir uns wieder erholt haben, und geben uns eine andere Aufgabe. Nein, Yimao, uns schickt niemand heim. Sie haben abgewartet, bis ich wieder laufen konnte, und als klar war, dass ich auf dem Feld keine große Hilfe sein würde, hat man mich zum Schuldienst abkommandiert.«
Er schlurfte durchs Zimmer, um mir zu zeigen, dass er sein linkes Bein immer noch nicht richtig belasten konnte. »Schau, es ist nie ganz verheilt. Aber hier oben schert sich keiner darum.«
Seine Worte erschütterten mich. Wieder einmal fragte ich mich bang, ob ich diesen Ort denn nur als Leiche verlassen würde.
Zhu Yiping blieb den ganzen Nachmittag und unterhielt sich mit uns. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Rückweg zu seinem Dorf, leicht hinkend, den Schlangenstock vor sich her schwingend. »Wie kommst du denn auf diesen Bergpfaden hier zurecht?«, rief ich ihm hinterher. Er drehte sich um, lächelte und rief: »Schlecht!«
Wir hatten einen großen Krug in der Hütte und mussten jeden Tag Wasser holen, um ihn aufzufüllen. In den ersten Tagen nach meiner Ankunft hatte dies Cuihua erledigt. Doch nun erbot ich mich, eine Zeit lang diese Aufgabe zu übernehmen, und ging mit zwei Holzeimern zu dem etwa sechs Meter tiefen Brunnen. Ich konnte nicht bis zum Grund sehen und hatte Angst, hineinzufallen. Also kniete ich mich hin und stützte mich am gemauerten Brunnenrand ab, warf den ersten Eimer hinunter und zog ihn an dem langen Seil hin und her. Doch es gelang mir einfach nicht, damit Wasser zu schöpfen. Ratlos zog ich ihn wieder hoch. Ich wollte schon aufgeben und wieder nach Hause gehen, als Zhu Yiping auftauchte. »Cuihua hat mir gesagt, wo du steckst«, begrüßte er mich. »Komm, ich helfe dir.« Er nahm den Eimer. »Du musst ihn mit der Öffnung nach unten ins Wasser werfen, sonst schwimmt er auf der Oberfläche.« Nachdem er mir die Eimer gefüllt hatte, reichte er mir seinen Schlangenstock und trug die Wassereimer mit der Schultertrage zurück zu unserer Hütte. Ich folgte ihm.
Cuihua erwartete uns schon an der Tür. »Na, ihr Turteltäubchen«, bemerkte sie. »Ihr zwei seht aus wie Mann und Frau.«
Ich wurde verlegen und brachte kein Wort heraus. Auch Yiping wurde rot, stellte die Eimer ab und sagte: »Das Wasser ist für euch beide, Cuihua. Und zwei Frauen sind mir wirklich zu viel.« Er traf genau den richtigen Ton, und wir mussten alle drei lachen.
Danach besuchte Yiping uns regelmäßig. Manchmal brachte er Reis mit, und wir kochten zusammen und unterhielten uns bis spät in die Nacht. Ich erfuhr, dass er zwar nur die Mittelschule abgeschlossen hatte, aber als Autodidakt klassische chinesische Literatur und Lyrik studierte. Uns verband die Liebe zur Dichtkunst. Ich verriet ihm, dass ich ein paar Gedichtbände mitgebracht hatte, worauf er meinte, das habe er auch getan. Danach brachte er mehrere Bände mit, und ich kramte das große Buch mit den Gedichten aus der Tang-Dynastie hervor. Oft saßen wir bis tief in die Nacht beisammen und lasen einander Gedichte vor. An manchen Abenden folgte ich mit dem Finger den Zeilen, wenn er die uralten Gedichte von Liebe und Einsamkeit rezitierte. Bei bestimmten Passagen wurde mir ganz warm ums Herz, und mein Pulsschlag beschleunigte sich. Ich fragte mich, ob er mir mit den Gedichten etwas sagen wollte oder ob ihm nur zufällig gerade diese Worte gefielen?
Eines Abends stand er am Fenster, um das letzte Licht des Tages zu nutzen. In der einen Hand hielt er den Gedichtband, mit der anderen untermalte er gestisch seine Worte:
Letztes Jahr an ebendiesem Tag,
Da sah ich sie an dieser Tür.
Ihr Gesicht und die Pfirsichblüten
Spiegelten einander ihre Schönheit wider.
Ich frage mich,
Wo ist ihr Gesicht?
Nur die Pfirsichblüten
Lächeln auch heute im Frühlingswind.
Es schnürte mir die Kehle zu. Ich vergaß die Mühen des Tages und die Hoffnungslosigkeit meines Daseins. Der Klang seiner sanften, ausdrucksvollen Stimme hob meine Stimmung und ließ mich mit offenen Augen träumen. Ich zitierte aus dem Gedächtnis:
Du fragst mich, weshalb ich am grünen Berg lebe.
Ich lächle nur schweigend und mit ruhigem Sinn.
Fern von den Menschen schweben
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