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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Pfirsichblütenblätter
    Auf Gebirgsbächen zur Erde und gen Himmel hin.
    Yiping blickte mich unverwandt an, während ich sprach. Das machte mich so verlegen, dass ich mich zum Fenster umdrehen musste.
    Kaum hatte ich geendet, zitierte auch er aus dem Gedächtnis:
    Über weiter Waldesebene liegt ein Schleier, gewoben aus Rauchringen,
    Kalte Berge erstrecken sich in einem Gürtel aus herzzerreißendem Grün.
    Die Dämmerung umhüllt des Turmes Höh,
    Wo jemand seufzt, ganz lang und tief …
    Hier wusste er nicht mehr weiter. Ich wartete, ob ihm der Rest des bekannten Gedichts von Li Bai noch einfiel. Schließlich sprach ich weiter, und da erinnerte auch er sich wieder. Gemeinsam beendeten wir das Gedicht:
    Auf Marmorstufen wartet sie vergeblich,
    Sieht Zugvögel nur, die heimwärts fliegen.
    Wohin soll sie schauen, den Liebsten zu entdecken?
    Nichts als Wachen nah und fern.
    »Li Bai muss hier vorbeigekommen sein«, sagte er. Ich musste mich räuspern und errötete, während ich ihm zustimmte.
    Als wir über unsere Kindheit und Jugend sprachen, stellte ich fest, dass Yiping und ich ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Daher glichen sich viele unserer Erinnerungen und Gefühle. Beide kannten wir Einsamkeit und Heimweh. Unsere Seelen waren im Laufe der Jahre verwundet worden. Man hatte uns die Kindheit gestohlen. Wir konnten einander mit Worten trösten. Doch wir mussten vorsichtig sein. Leidenschaft war für uns bisher immer mit Politik verbunden gewesen – wir fürchteten dieses Gefühl, wenn wir es im Gesicht und in der Stimme eines anderen entdeckten. Leidenschaft war das Monopol jener, die andere verfolgten. Wir kannten nur Leid, Schüchternheit, Angst, Enttäuschung und Schmerz. Doch jetzt spürten wir, wie Leidenschaft in unseren Herzen keimte. Wir trauten einander kaum anzusehen, denn wir fürchteten, der Funke könnte überspringen. Unter der Oberfläche schwelte die Glut. Doch wir achteten darauf, die Mauer zwischen uns nicht einzureißen. Es gab keinerlei Berührungen. Und keine tiefen Blicke. Wir wussten, wo die Grenze war. Deshalb hielten wir Abstand, auch wenn es uns nicht leichtfiel.
    Ich fieberte Yipings Besuchen entgegen. Bevor er kam, kämmte ich mich und wusch mir Gesicht und Hände. Cuihua lachte, weil ich immer so aufgeregt war. Doch ich merkte, dass sie zunehmend eifersüchtig wurde. Und ich hatte gelesen, dass Eifersucht immer zu Problemen führte. Daher beschloss ich, noch vorsichtiger zu sein und nicht mehr so viel Zeit mit Yiping zu verbringen.
    Als ich eines Nachmittags von der Feldarbeit nach Hause ging, hörte ich Schreien und Weinen. Ich rannte die letzten Meter zu unserer Hütte, wo sich Cuihua in einem Kreis von Menschen auf dem Boden wälzte und hysterisch kreischte. Die Hände hatte sie wie ein Baby zu Fäusten geballt.
    »Was ist passiert?«, fragte ich eine Frau.
    »Cuihua ist in die Latrine gefallen.«
    In den Bergen wurde nicht einfach nur ein Loch als Latrine ausgehoben wie im Flachland, sondern ein großer Behälter im Boden versenkt, dessen Rand etwa fünfzehn Zentimeter herausragte. Darauf legte man zwei Bretter. Sich zu erleichtern wurde damit zu einem Balanceakt, denn man stand dabei mit je einem Fuß auf einem der Bretter. Wenn man sich zu sehr bewegte, verschoben sie sich, und man konnte das Gleichgewicht verlieren. Jedes Mal, wenn ich über dem Latrinenbehälter hockte, fühlte ich mich beklommen.
    Cuihuas langes Haar war kotverschmiert. Sie schämte sich, weil sie in die Latrine gefallen war und mehrere Dorfbewohner hatte rufen müssen, damit sie sie herauszogen. Ich fand die Szene tragisch und komisch zugleich. Gemeinschaftsleiter Huang erschien und meinte: »Cuihua, steh auf und wasch dich. Jeder weiß ja, dass du ein Stadtmädchen bist. Aber auf dem Land werden wir nun mal hin und wieder schmutzig.«
    »Schmutzig?«, schrie Cuihua und rappelte sich auf. »Schau mich an! Das ist kein Schmutz! Das ist die Scheiße deiner Dorfbewohner. Ich kann hier nicht mehr bleiben. Ich habe mein Gesicht verloren. Ebenso gut könnte ich sterben.«
    »Na, du wirst es schon überleben«, meinte Huang.
    »Ich will nach Hause, um mich davon zu erholen! Ich brauche zwei Wochen Auszeit. Das habe ich mir verdient.«
    Huang blickte sie finster an, hatte jedoch Mitleid. »Na schön«, sagte er. »Eine Woche.«
    Mit strahlendem Lächeln rannte Cuihua zum Fluss, um sich zu waschen. Als ich mich am nächsten Morgen einer Gruppe von Frauen anschloss, um weiter oben in den Bergen Tee zu

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