Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
und war guter Dinge. Sie erzählte lustige Geschichten über Maomao. Und kaum eine Stunde später krümmte sie sich vor Schmerzen!«
Mamas Schwester im fernen Changsha sei ebenfalls verständigt worden, berichtete der Onkel. Doch in ihrem Antworttelegramm hieß es, sie sei hochschwanger und könne nicht reisen.
Was an jenem Tag geschehen ist, hat mir meine Mutter lange Zeit später noch einmal erzählt. Großmama war in den zwei Jahren sehr gealtert – sie war ganz dünn und blass geworden, ihr Haar war schneeweiß, und vor lauter Schwäche konnte sie sich kaum rühren. Man hatte ihr so viele Schmerzmittel gegeben, dass sie nur mit Mühe die Augen offen halten konnte.
»Du bist hier«, flüsterte sie kaum hörbar, als sie meine Mutter erkannte. »Wo ist Maomao?«
Mama hielt ihr die Hand und erzählte ihr, dass ich, müde nach der langen Zugfahrt, zu Hause geblieben war. »Sie schläft in deinem Bett, Mutter«, sagte Mama mit heiserer Stimme.
»Ich will sie sehen«, sagte Großmama.
»Morgen bringe ich sie mit«, versprach meine Mutter.
»Und wie geht es ihr? Vermisst sie ihre Großmama?«
»Sie weint jede Nacht, weil du ihr so fehlst.«
»Hat sie genug zu essen?«
»Ja, Mutter. Sie ist gewachsen. Und gesund.«
Dann erzählte Mama ihr, dass Papa wieder als Lehrer arbeiten durfte, was Großmama sehr erleichterte. Und als sie hörte, dass ihre Tochter in Changsha nicht kommen konnte, weil sie gerade einen kräftigen, gesunden Jungen zur Welt gebracht habe, lächelte sie.
Es war ein schwüler, heißer Tag. Im Krankenhaus gab es weder eine Klimaanlage noch Ventilatoren. Eine Krankenschwester schlug meiner Mutter vor, auf dem nahen Markt Eis für Großmama zu kaufen.
Kurz darauf kam Mama mit einer großen Schüssel Eiswürfel zurück. Stück für Stück hielt sie Großmama das Eis an die Lippen und strich ihr damit über Stirn und Arme. Sie blieb den ganzen Nachmittag bis zum späten Abend bei ihr und holte noch zweimal Eis. Gegen vier Uhr morgens kam der Onkel und nahm Mamas Platz am Bett von Großmama ein.
An diesem Morgen erwachte ich als Erste. Ich zog mich an, bürstete mir das Haar, wusch mir das Gesicht und wartete darauf, dass Mama aufstand.
Der Onkel stand in der Tür. Seine Augen waren rot und verschwollen. Er sah mich mit meiner Puppe in der Morgendämmerung sitzen, doch er eilte wortlos an uns vorbei in das Zimmer, in dem Mama schlief. Nachdem sie leise ein paar Worte gewechselt hatten, schrie Mama plötzlich: »Nein! Nein! Nein!«
Auch die anderen im Haus wurden wach, und binnen Kurzem war aus jedem Zimmer Weinen zu hören. Mama saß zusammengekauert auf dem Bett und schluchzte.
»Können wir jetzt zu Großmama gehen?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Mama. »Sie ist heute Morgen gestorben.«
Ich verstand nicht, was »gestorben« hieß. Mama drückte mich an sich und schluchzte wieder.
Ich wusste nicht, was der Tod war. Seine Endgültigkeit war mir nicht bewusst. Ich hatte gehört, wie Papa zu Mama gesagt hatte, er sei »von den Toten auferstanden«, als er aus dem Straflager zurückgekommen war. Daher glaubte ich, dass der Tod lediglich eine vorübergehende Trennung bedeutete. Auch ich weinte wie die anderen. Doch ich hoffte, es würde bald keinen Grund für Tränen mehr geben. Großmama würde aus dem Krankenhaus zurückkommen, mich in die Arme nehmen und mit mir spielen. Auf diesen Tag wartete ich. Erst nach und nach wurde mir klar, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.
Es gab einen Trauergottesdienst. Wir erfuhren, dass meine Tante in Changsha ein Mädchen geboren hatte. Meine Onkel und Tanten hatten befürchtet, dass Großmama darüber enttäuscht wäre, und so hatte Mama ihr von einem Jungen erzählt. Aber ich wusste, wie sehr sie sich über eine weitere Enkelin gefreut hätte. Daran hatte ich keinen Zweifel.
Ende August kehrten wir nach Hefei zurück. Wie zuvor erledigte ich meine Haushaltspflichten und besuchte das Kinderbetreuungszentrum. Mama ging wieder zur Arbeit, und Großmutter kümmerte sich um meinen kleinen Bruder. Papa lehrte an der Universität. Yiding ging zur Schule. Und bald war ich überzeugt, dass ich in einer sicheren Welt lebte, in der ein Tag dem nächsten folgte und die Jahreszeiten wechselten, ohne dass Widrigkeiten oder Enttäuschungen diesen Rhythmus stören würden. Ich dachte, wenn ich täte, was man von mir verlangte, wenn ich also eine brave und gehorsame Tochter wäre, dann könnte ich mich in dieser Welt wohlfühlen, selbst wenn Großmama
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