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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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mir hoch.
    »Papa«, flüsterte ich. »Ich kann nicht laufen.«
    »Schon gut«, meinte er. »Ich trage dich.«
    Er kniete sich hin und sagte, ich solle ihm von hinten die Arme um den Hals und die Beine um den Bauch legen. Dann hängte er sich die Tasche über die Schulter, stand auf und beugte sich vor, sodass ich bequem auf seinem Rücken liegen konnte und mich nicht allzu sehr festklammern musste.
    »Alles in Ordnung, Maomao?«, fragte er.
    »Ich glaube schon, Papa«, antwortete ich. »Aber geh langsam. Mir tut alles weh.«
    Vornübergebeugt, als hätte er ein unhandliches Bündel und nicht ein krankes Kind auf dem Rücken, ging er los. Er trug mich bis zur Bushaltestelle, die eine Stunde von uns entfernt war. Alle Plätze im Bus waren besetzt, und keiner bot uns seinen Sitz an. Also musste mich Papa weitere vierzig Minuten lang tragen. Ich klammerte mich mit aller Kraft an ihn und schloss die Augen. Es war heiß, und ich fühlte mich, als ob ich brannte.
    Der Bus setzte uns kurz vor der Dashushan-Klinik für Infektionskrankheiten ab. Sie lag etliche Kilometer vor der Stadt, damit die Patienten von der gesunden Bevölkerung isoliert blieben.
    Papa trug mich in die Eingangshalle. Dort setzte er mich auf einer Bank ab, zeigte einem Angestellten das Überweisungsformular und wartete. Eine halbe Stunde später erschien ein Arzt. Er musterte mich eindringlich, drehte mein Gesicht zu sich, leuchtete mir in Augen und Mund und betastete meinen Hals, meine Arme und meine Beine. Dann drehte er sich um und funkelte Papa zornig an. »Was für ein Vater bist du denn?«, blaffte er ihn an.
    »Was meinst du damit?«, fragte Papa unterwürfig. Mehrere Menschen in der Halle drehten sich zu uns um.
    »Ich meine damit«, sagte er langsam und betonte dabei jedes Wort, »dass dieses kleine Mädchen schwer krank ist. Warum hast du sie nicht früher hierher gebracht? Wie konntest du ruhig mit ansehen, wie dein eigenes Kind so erbärmlich dahinsiecht?«
    »Wir haben sie jeden Tag in die Universitätsklinik gebracht«, entgegnete Papa. »Dort hat man sie untersucht, ihr Kräutermedizin gegeben und uns wieder nach Hause geschickt.«
    »Schieb die Schuld nicht auf andere«, knurrte der Arzt. »Es ist deine Tochter. Du bist für sie verantwortlich.«
    »Ohne Überweisungsschein konnten wir doch gar nichts tun«, erwiderte Papa jetzt erheblich lauter.
    Der Arzt hielt einen Moment inne, überlegte und schüttelte den Kopf. »Schon gut«, seufzte er. »Aber ich sage dir … irgendjemand hätte es besser wissen müssen. Das ist … es sieht nicht gut aus.«
    Vor Schwäche sackte ich zusammen, während die bitteren Worte des Arztes von allen Wänden widerhallten. Ich war entsetzt und schämte mich. Denn der Arzt irrte sich. Er wusste nicht, dass Papa mich den ganzen Weg zum Krankenhaus auf seinem Rücken getragen hatte. Papa war nicht schuld daran, dass ich krank war. Der andere Arzt war schuld. Hätte ich das diesem Mann doch irgendwie sagen können! Dann würde er bestimmt nie wieder in diesem Ton mit Papa reden.
    »Ich werde für sie tun, was ich kann«, fuhr der Arzt fort, und Mitleid schwang in seiner Stimme mit. »Aber ich kann nichts versprechen. Bestenfalls wird sie sehr lange hierbleiben. Du kannst gehen.«
    Papa streichelte meine Hand. Er wollte etwas sagen, doch dann zögerte er und biss sich auf die Lippen. Ich wollte ihm sagen, wie leid es mir tat, dass ich krank geworden war. Ich wollte ihm sagen, dass ich versucht hatte, ihm eine gute Tochter zu sein und keine Last. Und dass es mir leid tat, dass ich nicht selbst zum Bus hatte gehen können. Aber ich war zu schwach zum Sprechen. Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich nicht gewusst, wie ich mein Bedauern und meine Schuldgefühle in Worte fassen sollte. Also sah ich ihm nur in die Augen und zwang mich zu einem zaghaften Lächeln.
    Bevor Papa ging, griff er in die Tasche und gab mir meine Puppe. »Mama und ich kommen dich bald besuchen, Maomao«, versprach er. Seine Stimme zitterte. »Sei ein braves Mädchen und tu, was man dir sagt.«
    Ich nickte. Und lauschte Papas Schritten, als er ging. Ich hörte, wie sich die Tür öffnete und ins Schloss fiel. Der Arzt rief eine Schwester und wies sie an, mich auf ein Zimmer zu bringen.

Kapitel 10
    D ie Schwester brachte mich in ein kleines Vierbettzimmer im ersten Stock. Während sie mich in eins der Betten steckte und eine Decke über mich breitete, starrten mich die drei Mädchen in den anderen Betten an und tuschelten

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