Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
wiedergewonnene Hoffnung steht.
Die Geburt eines weiteren Bruders hatte zur Folge, dass mein Status innerhalb der Familie sank. Mein Vater hing dem traditionellen chinesischen Glauben an, dass Jungen mehr wert seien als Mädchen. Seine Söhne waren sein Stolz und seine Freude, während seine Tochter einfach nur ein weiteres Kind war. Er kümmerte sich um mich, aber weniger als um meine Brüder.
Hingebungsvoll half Papa meinem älteren Bruder bei den Hausaufgaben, und seinen kleinen Sohn vergötterte er. Mich aber fragte er nie, was ich in der Schule gelernt hatte oder wie mein Tag verlaufen war. Er erkundigte sich auch nicht nach meinen Freundinnen. Stattdessen wurde von mir erwartet, dass ich mich in eine untergeordnete Rolle fügte, Hausarbeit erledigte, auf meine Brüder aufpasste und sie bediente – ebenso wie meine Eltern und meine Großmutter.
Mama brachte mir bei, den Boden zu fegen, Geschirr zu spülen, abzutrocknen und den Tisch zu decken. Von Papa lernte ich, wie man einkaufte und um den Preis feilschte. Meine erste Aufgabe war, Eier zu kaufen. Papa gab mir einen Yuan und schickte mich zum nahen Straßenmarkt. Auf dem Heimweg passte ich gut auf, wo ich hintrat, damit ich nicht über einen Pflasterstein stolperte. Da ich außer den unversehrten Eiern auch noch ein bisschen Wechselgeld nach Hause brachte, lobte mich Papa und betraute mich mit weiteren Einkaufspflichten.
Jeden Morgen holte ich die Milchration für Yicun. Bei Tagesanbruch fuhr ein älterer Verkäufer auf einem Fahrrad vor unseren Wohnblock und rief: »Milch! Holt eure Milch!«
Sobald ich den Ruf des Milchmanns hörte, rannte ich mit einem kleinen Topf hinunter. Er gab mir zwei Flaschen Milch, die beide mit einem blau-weißen Stück Wachspapier verschlossen waren, das ein Gummiband festhielt. Ich machte die Gummibänder los, schob sie mir übers Handgelenk und zog das Wachspapier ab. An den Pappscheibchen, die die Flaschenhälse versiegelten, klebte immer eine Sahneschicht. Ich leckte sie sauber, goss die Milch in meinen Topf und gab dem Milchmann Flaschen, Pappscheiben und Wachspapier zurück. Die Gummibänder behielt ich, um daraus Hüpfbänder zu machen.
Manchmal fragte mich der alte Milchmann mit schiefem Grinsen: »Hast du auch kein Tröpfchen drin gelassen, kleines Mädchen?« Wenn ich dann stutzte und die Flaschen untersuchte, um sicherzugehen, dass nichts mehr aus ihnen herauszuschütteln war, lachte er. Ich trug den vollen Topf die Treppe hinauf, ohne je etwas dabei zu verschütten. Auch lernte ich, mit Holzspänen und Kohle ein Feuer in unserem Ofen anzuzünden, um die Milch warm zu machen.
Wenn ich nachmittags mit dem Fegen und dem Schrubben von Töpfen und Pfannen fertig war, spielte ich draußen. Neben dem Sportplatz war ein Sandkasten, wo ich Städte und Kanäle und meine eigene Große Mauer im Miniaturformat baute. Dort traf ich auch andere Mädchen aus der Nachbarschaft, und wir spielten zusammen oder unterhielten uns über unsere Eltern und Brüder. Wie ich feststellte, unterschied sich ihr Leben nicht von meinem – sie wurden ebenfalls kaum beachtet, man erwartete wenig von ihnen, sie hatten dieselben Pflichten wie ich und wurden geringer geschätzt als ihre Brüder. Wir freundeten uns an.
Gelegentlich sah ich auf dem Heimweg vom Kinderbetreuungszentrum, wie meine Großmutter in ihrem kleinen Gemüsegarten zwischen den Wohnhäusern die Tomaten, Bohnen und Rüben goss oder Unkraut jätete. Ich erkannte sie an ihrem Gang: Sie bewegte sich langsam, denn man hatte ihr als Kind die Füße gebunden, wie es in China früher üblich war. Man brach einem Mädchen die Fußknochen und wickelte die Füße ganz fest mit Baumwollbandagen ein, damit sie so klein wie möglich blieben. Daher humpelte sie mit ihrem unverwechselbaren Schritt durch den Garten.
Als sie sich eines Abends die kleinen Füße wusch, sah ich, dass sie links sechs Zehen hatte. »Großmutter, warum hast du sechs Zehen?«, fragte ich und starrte auf den ungewöhnlichen Fuß.
»Das bedeutet Glück«, erklärte sie.
Ich untersuchte meine Füße, doch ich hatte nur fünf Zehen. Auch als ich an der Außenseite des einen Fußes entlangtastete, um festzustellen, ob mir vielleicht später einmal eine sechste Zehe wachsen würde, konnte ich nichts entdecken. Also würde ich wohl kein Glück haben. Ich fragte Papa danach.
»Das ist ein alter Aberglaube, Maomao«, erklärte er. »Es hat nichts zu bedeuten, überhaupt nichts.«
Diesen Satz prägte ich mir ein, und
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