Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
sind nur Ratten. Wenn man sie in Ruhe lässt, tun sie einem nichts. In unserem Keller in Tianjin hat es nur so davon gewimmelt.«
»Du hast natürlich keine Angst«, meinte eines der älteren Mädchen. »Du bist ja eine kleine Katze, und Katzen fürchten sich nicht vor Ratten.«
»Stimmt«, sagte ich und stieß ein lautes Miau in Richtung der Ratten aus. Die Mädchen klammerten sich aneinander und kicherten nervös. Aber nach einigen Augenblicken ließ ihre Angst nach. Alle rutschten ans Fußende des Bettes, beugten sich über das Gitter und miauten, wie ich es ihnen vorgemacht hatte. Unser Katzenquartett wurde zunehmend lauter. Gelegentlich hielt eine Ratte inne und warf einen ärgerlichen Blick in unsere Richtung. Wenn das geschah, erstarrten die anderen Mädchen und verstummten. Ich aber miaute sogar noch lauter. Da die Ratten jedoch nichts Bedrohliches in dem Geräusch erkennen konnten, fuhren sie ungerührt mit ihrem Treiben fort.
Wir blieben noch eine Weile wach für den Fall, dass sie noch einmal auftauchten. Was sie auch taten. Dieselbe Bande langschwänziger Nager erschien an der Tür, schleppte Lebensmittelreste und Abfall und zerrte schmutzigen Verbandsstoff hinter sich her. Trotzig durchquerten sie das Zimmer und verschwanden dann in einem Spalt in der Wand.
Ich versuchte, den Mädchen ihre Angst auszureden. Aber wann immer sie die nächtlichen Eindringlinge zu Gesicht bekamen, erschreckten sie sich zu Tode und erklärten, dass ich das Kommando bei der Verteidigung unseres Zimmers übernehmen müsse. Meine Furchtlosigkeit machte ihnen dann stets wieder Mut.
Was mich allerdings während meiner Krankenhauszeit verstörte und noch lange beschäftigen sollte, war die Leiche, die ich an einem warmen Samstagnachmittag erblickte.
Meine Zimmergenossinnen und ich streiften auf unserer Station umher, als wir hektische Bewegungen wahrnahmen, gefolgt von Schreien und Weinen im unteren Stockwerk. Sogleich rannten wir zur Treppe, um zu sehen, was los war. In der Eingangshalle lag ein Mann auf einer Krankenbahre, umringt von Ärzten und Schwestern. Immer wieder pressten sie aufgeregt auf seine Brust, säuberten seinen Mund und brüllten ihn an. Um die Ärzte und Schwestern hatte sich ein weiterer Kreis aus Kindern gebildet, allesamt noch sehr klein, die hysterisch schrien. Um besser sehen zu können, gingen wir ein paar Stufen die Treppe hinunter, bis uns eine Schwester befahl, in unser Zimmer zurückzukehren. Also trippelten wir wieder zum Treppenabsatz hoch, wo wir uns aneinanderkuschelten und hinunterspähten.
Ich sah eine Frau, die ungefähr so alt wie meine Mutter war. Sie weinte und jammerte lauter als alle anderen. Nachdem die Ärzte sich etwa eine Viertelstunde mit dem Mann abgemüht hatten, hielten sie inne und sahen einander kopfschüttelnd an. Dann breiteten sie ein Laken über den Mann. Da kreischten und wehklagten die Frau und die Kinder, und als die Frau die Arme nach dem Mann ausstreckte, wurde sie weggezerrt und fortgebracht. Eine Schwester schob die Bahre mit dem Leichnam aus der Halle.
Später fragten wir eine Schwester, was geschehen war, und sie erzählte uns, dass es in der Nähe des Krankenhauses einen Stausee gab. Dort waren zwei Jungen mit ihrem Vater schwimmen gewesen. In der Staumauer war ein Leck entstanden, und dieses Loch hatte eine starke Unterwasserströmung erzeugt. Als die Kinder in die Nähe des Loches schwammen, wurden sie in die Tiefe gezogen und gegen die Mauer gedrückt. Ihr Vater kam ihnen zu Hilfe und konnte sie retten, war aber zu erschöpft, um sich selbst noch in Sicherheit zu bringen. Der Strudel zerrte ihn zum Leck hinab, und er ertrank.
Es war das erste Mal, dass ich einen Toten sah. Er wirkte ganz friedlich, als ob er schliefe. Und allmählich kam mir auch zu Bewusstsein, wie selbstlos der Mann seine Kinder geliebt haben musste: Er hatte sein Leben für sie geopfert. Als ich die Schwester darüber befragte, erwiderte sie: »Er ist für seine Söhne gestorben.«
Dieses Ereignis ging mir sehr nahe, und noch viele Tage später konnte ich die Stimmen der Kinder hören … der kleinen Jungen und Mädchen, die um ihren ertrunkenen Vater trauerten.
Auch mit meinen Bettnachbarinnen sprach ich darüber. Eine erzählte, nach dem Vorfall habe sie eine Krankenschwester in der Halle sitzen sehen, die vor sich hin geweint hatte. Mir wurde klar, wie hart die Ärzte und Schwestern arbeiteten, um Menschen zu helfen. Nun mochte ich sie noch mehr, sogar den Arzt, der Papa
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