Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
beschimpft hatte. Ich erinnerte mich, dass mir auf unserer Fahrt zum Krankenhaus niemand einen Sitzplatz im Bus angeboten hatte. Mir wurde klar, dass der Zorn des Arztes auf Papa weniger ein Zeichen von Abneigung gewesen war, sondern von seiner Sorge um mein Wohlergehen herrührte. Das war eine neue Erkenntnis für mich. Bald hegten meine Zimmergenossinnen und ich eine tiefe Zuneigung zu den Ärzten und Schwestern, die sich um uns kümmerten. Fast kam es uns vor, als wären wir alle eine Familie. Vielleicht war das der Grund, warum ich mich im Laufe meiner Genesung gar nicht richtig darauf freute, aus dem Krankenhaus herauszukommen.
Nacheinander wurden meine Bettnachbarinnen entlassen. Nach sechzig Tagen war schließlich auch ich an der Reihe. Der Arzt meinte, ich sei wieder so weit bei Kräften, dass ich nach Hause könne. Papa holte mich ab. Ehe wir aufbrachen, kamen die Schwestern, um sich von ihrer »kleinen Katze« zu verabschieden. Am liebsten hätte ich losgeheult. Stattdessen winkte ich ihnen nur stumm zu. In meinem Kummer fiel mir dann plötzlich etwas ein. Kurz bevor die Tür hinter mir zufiel, drehte ich mich um und ließ ein zärtliches, lang gezogenes »Miaaaauuu« vernehmen.
Und alle Ärzte und Schwestern klatschten und lachten.
Kapitel 11
I n jenem Herbst wurde ich für die erste Klasse der Meishanlu-Grundschule eingeschrieben. Wenn ich nicht arbeitete oder lernte, spielte ich mit Xiaolan und anderen Freundinnen und erzählte ihnen von meiner Zeit im Krankenhaus.
Eines hatte sich zu Hause eindeutig zum Besseren verändert: In meiner Abwesenheit hatte Papa das abendliche Ritual eingeführt, meinen Brüdern Geschichten zu erzählen. Er legte meinen jüngeren Bruder in die Wiege, rückte sich einen Stuhl davor und ließ meinen älteren Bruder neben sich auf einem Hocker Platz nehmen. Dann löschte er das Licht und begann im Dunkeln mit seiner Geschichte.
Doch als ich mich zu ihnen setzen wollte, schickte mich Papa fort. »Das ist nur etwas für die Jungen, Maomao«, sagte er. »Geh in dein Zimmer.«
Ich spitzte die Ohren, um durch die Wand etwas mitzubekommen. Großmutter und Mama saßen unterdessen auf dem Bett meines Bruders und unterhielten sich oder lasen. An manchen Abenden schlief Mama ein, während sie darauf wartete, dass Papa seine Geschichten zu Ende brachte. Dann weckte er sie sanft, legte meinen Bruder in sein Bett und führte Mama aus dem Zimmer.
Mit der Zeit fand ich einen Weg, das abendliche Ritual aus nächster Nähe mitzuerleben. Nachdem ich den Abwasch erledigt und das Geschirr weggeräumt hatte, nahm ich meine Decke und kroch unter die Wiege meines Bruders, während mein älterer Bruder noch lernte und mein Vater arbeitete. In die Decke gehüllt, schmiegte ich mich dort dicht an die Wand und verharrte ganz still, damit mich niemand bemerkte.
Papa war ein hervorragender Geschichtenerzähler. Ich war hingerissen von seiner klangvollen Stimme, die mal lauter, mal leiser wurde und im Tonfall wechselte, während er spannende Geschichten für seine Söhne erfand. Wenn eine Geschichte lustig war, hielt ich mir manchmal die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken, während meine Brüder nur eine Armlänge entfernt losprusteten. In dem Lichtstrahl, der von nebenan hereinfiel, sah ich, wie Papas Pantoffeln herumhüpften und sich die Füße meines Bruders vor und zurück bewegten. Über mir hörte ich das sporadische Quietschen der Bettfedern, wenn sich mein kleinerer Bruder in der Wiege von einer Seite auf die andere drehte. Wir lauschten atemlos, vor allem, wenn Papa mit der Stimme einer seiner Figuren sprach. Dann standen wir vollkommen unter seinem magischen, beglückenden Bann.
Einige von Papas Geschichten waren traditionelle chinesische Märchen, die wir schon in der Schule gehört hatten, aber niemals so betörend wie aus seinem Mund.
Die Reise nach dem Westen,
die Sage vom Affenkönig, erfreute sich immer großer Beliebtheit. Am meisten gefielen meinen Brüdern und mir jedoch die Geschichten, die er von seinen Studienjahren in Amerika mitgebracht hatte. Das Faszinierende daran waren aber weniger die Abenteuer seiner Helden als vielmehr ihre fremdartigen, ulkigen Namen.
Anfangs zählte
Die Perle
zu meinen Lieblingsgeschichten. Papa hatte sie aus dem Englischen übersetzt, und diese Übersetzung war in den chinesischen Schulen sehr verbreitet. »Es war einmal«, begann er, »eine glückliche Familie. Der Papa hieß Kino, die Mama Juana und das Baby Coyotito.«
Als er
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