Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
Vom Netzwerk:
Papier, wenn er eine Zigarette aus dem Päckchen zog, worauf er ein Streichholz aus einer kleinen Schachtel nahm und es anriss. Nachdem er sich die Zigarette angezündet hatte, goss er sich einen Becher Wein ein, setzte sich wieder und rauchte und trank.
    Von meinem Versteck aus beobachtete ich die Glut der Zigarette, die wie ein träges Glühwürmchen im Dunkeln herumtanzte. Papa qualmte eine Zigarette nach der anderen und schaukelte dabei auf seinem Stuhl hin und her. Nach mehreren Gläsern Wein begann er oft, vor sich hin zu summen oder leise lallend zu singen. Und wenn er dazu keine Lust mehr hatte, saß er nur noch still da. Plötzlich durchbrach Schluchzen die Stille. Manchmal zählte er die Männer auf, denen er während seiner Zeit im Straflager begegnet war. Ich kannte ihre Namen, denn ich hatte gehört, wie er Mama von ihnen erzählte. »Ich habe geholfen, sie zu begraben«, sagte er zu ihr. »Nie werde ich sie vergessen. Alle diese Männer habe ich im tiefsten Winter unter die gefrorene Erde gebracht.«
    In seinen Träumen, so erzählte er Mama, kehrten sie zu ihm zurück. Sie riefen nach ihm, er konnte ihre Stimmen hören und ihre gefrorenen Tränen sehen, wenn sie von ihren fernen Familien sprachen. »Sie waren jünger und kräftiger als ich«, stöhnte er. »Aber sie sind gestorben, und ich habe überlebt … Warum? Da ist so vieles im Leben, was keinen Sinn ergibt.«
    Hätte Papa gewusst, dass ich im Raum war, er hätte mir den Hintern versohlt. Er wollte weder, dass ich seine Geschichten hörte, noch, dass ich seinen geheimen Schmerz miterlebte. Aber ich lauschte und wusste darum. Nur ich. Abend für Abend.
    Von all dem begriff ich nicht viel, nur dass Papa noch eine andere Seite hatte. Wenn er sich nachts allein glaubte, ließ er die Maske fallen, die er am Tag trug. Und dann erlebte ich ihn nicht nur als meinen Papa, sondern als einen traurigen, gequälten Menschen.
    Einige Sätze, die er häufig wiederholte, blieben mir rätselhaft. Gern hätte ich ihn danach gefragt, aber damit hätte ich zugegeben, dass ich bei ihm im Zimmer gewesen war. Er sagte immer: »Es ist noch nicht vorbei. Es kommt erst noch … ich sehe es.« Manchmal klang es resigniert, manchmal kummervoll. Manchmal schwang Angst mit, dann wieder eine seltsame Art von Humor, die aber gar nicht lustig wirkte.
    Ich malte mir aus, wie Papa eines Abends aus dem Fenster schaute und draußen auf der Straße jemanden erblickte. Der Betreffende sah auf und bemerkte ihn, bevor er vom Fenster zurücktreten konnte. Jetzt wusste dieser Mensch, wo wir wohnten. Und kauerte vielleicht am Fuß der Treppe. Wartend. Lauernd.
    Am liebsten hätte ich geschrien und wäre weglaufen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und was noch schlimmer war: Ich dachte, dass Papa es genauso wenig wusste.
    Ich erzählte Xiaolan, was Papa gesagt hatte. Was mochte es nur bedeuten? Sie meinte, sie habe ihre Eltern so etwas niemals sagen hören, doch sie glaube nicht, dass es sich um etwas Schlimmes handle.
    Papa ahnte nicht, dass er in jenen Nächten eine heimliche Zuhörerin hatte, die seinen Geschichten, seinen Erinnerungen, seinem Kummer, seinen Liedern und seinem Schluchzen lauschte. Er erfuhr nie, dass seine Tochter unter der Wiege seines Sohnes lag, wie ein gefangener Engel oder ein in die Enge getriebener Gott, dazu verdammt, zuzuhören und sich zu wundern.

Kapitel 12
    A m Abend des 20 . Januar 1966 begrüßte Papa das Jahr des Pferdes mit einem Trinkspruch. Er hob seinen Weinbecher und verkündete: »Auf ein Jahr des Wandels. Alles wird besser werden.« Zur Erwiderung hoben wir unsere Teetassen und pflichteten ihm im Chor bei.
    »Das Jahr des Pferdes – das heißt … glückliche Zeiten«, fügte Mama hinzu.
    Wir erzählten reihum, welche Veränderungen wir uns wünschten. Doch Großmutter warnte uns: »Das Jahr des Pferdes bringt auch Chaos und Unruhe. Das dürfen wir nicht vergessen.« Einen Moment lang legte sich ein düsterer Schatten auf unsere Feier. Bis Papa erwiderte: »Das ist richtig, Mutter. Aber wir wollen das Beste hoffen.«
    Yiding sprang auf, stieß mich in die Rippen und rief: »Glückliche Zeiten! Glückliche Zeiten!« Dann stürmte er davon. Ich sprang von meinem Hocker auf und rannte ihm über den Flur nach, während mir Yicun auf den Fersen war. Wir liefen ins Schlafzimmer und wieder hinaus und jagten einander im Kreis, bis wir übereinanderpurzelnd auf dem Boden landeten, uns kitzelten und hemmungslos lachten.
    Um Mitternacht gingen wir

Weitere Kostenlose Bücher