Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
diese Namen aussprach, kicherten seine Söhne.
»Sag die Namen noch mal«, bat mein älterer Bruder.
»Kino, Juana und Coyotito, das Baby.«
Auch wenn wir die Geschichte nicht verstanden, hatten es uns doch diese Namen angetan, vor allem Coyotito. Ich hatte keine Ahnung, was eine Perle war, warum sie so wertvoll sein sollte oder weshalb sie Menschen Glück oder Unglück brachte. Aber darauf kam es nicht an. Ich liebte jede Geschichte, die von einer glücklichen Familie mit lustigen Namen handelte.
Papa konnte Geschichten nach Belieben verlängern oder kürzen, je nachdem, wie spät es war, wenn er mit dem Erzählen begann. Erst Jahre später erfuhr ich, dass
Die Perle
keineswegs einen glücklichen Ausgang hatte und dass der kleine Coyotito ums Leben kam. Das hatte Papa ausgelassen. Und nicht nur das: Er benutzte lediglich die Namen aus den Büchern und spann Abenteuer darum herum, die für uns verständlich waren. Nach solchen Geschichten schliefen wir alle drei ruhig und friedlich und träumten von einer Welt voller Happy Ends.
Wenn Papa geendet hatte, brachte er meinen älteren Bruder in sein Zimmer zurück. Daraufhin kroch ich rasch unter der Wiege hervor und wartete in der dunklen Küche oder presste mich an die Wand im Flur, bis er mit Mama in sein Zimmer gegangen war. Dann tastete ich mich in der Dunkelheit zu meinem Bett.
Papa erzählte uns auch Geschichten aus
David Copperfield
und
Oliver Twist,
von denen wir ganz hingerissen waren. Doch am liebsten von allen war mir
Huckleberry Finn,
weil darin ein Schwarzer vorkam. Wir waren ja auch eine »schwarze« Familie. Wir wurden schlecht behandelt, man beäugte uns argwöhnisch. Und wenn irgendetwas schiefging, gab man uns die Schuld. Ich verstand das nicht. Man konnte es ebenso wenig verstehen wie die Tatsache, dass es Hunger, Krankheit und Tod gab. Es war eben so.
Die Geschichten, die wir in der Schule hörten, handelten von »roten« Familien und Helden. Aber zu Hause erzählte uns Papa von einem heldenhaften Schwarzen. Das entzückte mich so sehr, dass ich Xiaolan die Geschichten von Huckleberry Finn und dem schwarzen Jim erzählte. Meine Begeisterung steckte sie an.
Papa schilderte uns, wie Huckleberry und Jim in Amerika auf einem Floß den Mississippi hinunterfuhren. Wir liebten Wörter wie Huckleberry, Polly und Jim und natürlich das zauberhafteste und melodischste von allen: Mississippi. Auf Bitten meiner Brüder wiederholte Papa all die unvertrauten Wörter immer aufs Neue und brachte sie damit zum Lachen. Ich hingegen presste die Hand auf den Mund, bis mir Tränen über die Wangen liefen.
Als Papa den Jungen und den Schwarzen auf dem den Fluss hinuntertreibenden Floß beschrieb, stellte ich mir vor, es sei eine Geschichte von Vater und Sohn – wobei der Vater Papa sehr ähnelte –, die von einem schlimmen Ort an einen guten reisten. Und ich schwelgte in diesem allzu vertrauten Thema. Ich wünschte mir, die Geschichte ginge ewig weiter. Eines Abends erklärte Papa, das Floß habe Huckleberry und Jim schließlich nach Chicago gebracht, wo sie an Land gingen und sich an der Universität einschrieben.
Das faszinierte mich. Ich fand es großartig, wie Papa das Wort »Chicago« übersetzte. Er sprach es
»Zhi-jia-ge«
aus, worin das hochchinesische Wort für »großer Bruder« enthalten ist. Das klang für mich so anheimelnd, es machte aus der fernen Stadt einen lieben Menschen. Zwischen meinem großen Bruder Yiding und mir hatte sich ein besonderes Verhältnis entwickelt. Er begleitete mich auf meinen Streifzügen über den Campus und spielte mit mir im Sandkasten und auf dem Spielplatz. Deshalb freute es mich zu hören, dass auch Huckleberry an dieser Universität einen großen Bruder gefunden hatte. Es war übrigens nicht bloß eine Laune meines Vaters, dass er Chicago ins Spiel brachte: Er hatte dort drei Jahre gelebt und an der Universität an seiner Promotion gearbeitet. Manchmal sprach er in schwärmerischem Ton und voller Stolz von dieser Stadt.
Papa erzählte und erzählte und verlor dabei oft den roten Faden. An manchen Abenden fuhr er mit seinem Vortrag fort, obwohl meine Brüder schon eingeschlafen waren. Es war, als wisse er, dass ich unter der Wiege zuhörte. Dann wiederum saß er lange Zeit nur still da und sagte gar nichts. Wenn ich an solchen Abenden in meinem Versteck lag, konnte ich nur dem Atem meines jüngeren Bruders über mir lauschen. Nach einer Weile rückte Papa seinen Stuhl von der Wiege weg, ich hörte das Rascheln von
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