Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
setzte Papa eine große Schandmütze auf und hängte ihm ein Schild um, das seine Verbrechen auflistete. Am Vorabend waren bereits die Wohnungen einiger der hierher bestellten Personen durchsucht worden, und die Roten Garden hatten ihre Beute rings um die Basketballfelder aufgetürmt. Dazu gehörten Radios, Kleider, Fotos, akademische Urkunden, Bücher, Schallplatten und Zeitschriften. Einige Gegenstände – etwa Kleider, Schuhe oder Dessous – waren beschlagnahmt worden, weil die Rotgardisten darin Überreste eines dekadenten bourgeoisen Lebensstils sahen.
Nachdem der Befehlshaber der Roten Garden die Akademiker beschimpft und ihnen Konsequenzen angedroht hatte, falls sie verstockt blieben, verkündete er, dass ihr Gehalt zu hoch sei. Sie erhielten eine »ungerechtfertigte Entlohnung«, denn sie bekämen mehr als die Creme der Elite: die Arbeiter und Bauern. »Eine Gehaltsanpassung ist angebracht«, stellte er fest.
Papas Gehalt betrug 70 Yuan im Monat und war deutlich geringer als das seiner Kollegen. Er hörte, wie sich einer nach dem anderen freiwillig bereit erklärte, auf die Hälfte seines Einkommens zu verzichten. Als Papa an die Reihe kam, beugte sich der Rotgardist so weit zu ihm vor, dass sich fast ihre Nasen berührten. »Na?«, sagte er höhnisch.
»Dreißig Yuan monatlich«, erwiderte Papa leise.
»Jawohl!«, rief der Befehlshaber aus. »Sehr gut.« Und er wandte sich seinem nächsten Opfer zu.
Mutlos und niedergeschlagen kehrte Papa nach Hause zurück. Er ließ die Schandmütze und das Schild auf den Schreibtisch fallen. Zornig und beschämt betrachtete er die Utensilien, bevor er sich an den Tisch setzte.
Dann berichtete er Mama, was geschehen war. »Dreißig Yuan im Monat!«, seufzte er. »Wie sollen wir damit auskommen?« Zwar war es ihm gelungen, sich ein politisches Problem vom Leib zu halten, doch dafür gab es nun ein ernsthaftes wirtschaftliches Problem. »Aber es kommt noch schlimmer«, fuhr er mit tränenerstickter Stimme fort. »Viel schlimmer. Gestern Nachmittag hat sich ein angesehener Dozent des Fachbereichs für Chinesische Sprache aus dem Fenster gestürzt. Zuvor hatten die Roten Garden sein Haus geplündert und dabei dreitausend Bände klassischer chinesischer Literatur konfisziert und vor seinem Haus verbrannt.«
»Wann wird das nur enden?«, fragte Mama.
Kapitel 17
A m nächsten Morgen wurde ich vom Rufen und Pochen an unserer Wohnungstür geweckt. Als Mama öffnete, stürmte eine Horde hysterischer Rotgardisten herein. Ein großer junger Mann – ebenfalls ein ehemaliger Student von Papa – verlangte, dass Mama und Papa sich vor ihm aufstellten. »Der Vorsitzende Mao lehrt uns: ›Revolution ist Gewalt‹«, verkündete er. »›Sie ist ein Gewaltakt, durch den eine Klasse eine andere Klasse stürzt.‹ Lang lebe der Vorsitzende Mao!«
»Lang lebe der Vorsitzende Mao!«, riefen die anderen und hielten ihre Kleinen Roten Bücher in die Höhe.
»Genossen Revolutionäre«, wandte sich der junge Mann an seine Gefolgschaft, »wir sind hier, um zu handeln. Nutzt den Tag! Überseht bei eurer Suche kein belastendes Material der Vier Alten.«
Ich setzte mich auf, schob mein Moskitonetz beiseite und rieb mir benommen die Augen.
»Wu Ningkun«, sagte der Anführer, »händige uns deine gesamte Korrespondenz mit ausländischen Spionen aus.«
»Genosse Revolutionär«, erwiderte Papa gefasst, »so etwas habe ich nicht.«
»Leugne nicht deine konterrevolutionären Taten!«, brüllte der junge Mann. »Setz dich. Schreib eine Liste mit all den Leuten im feindlichen Ausland, mit denen du im Briefwechsel gestanden hast, seit du 1951 aus den imperialistischen USA nach China zurückgekehrt bist.«
Gehorsam setzte sich Papa an seinen Arbeitstisch und begann zu schreiben. Unterdessen verteilten sich die Rotgardisten in unserer Wohnung und begannen mit der Durchsuchung. Sie durchstöberten Schubladen, Schachteln und Fotoalben, deren Inhalt sie ungerührt auf den Boden kippten. Sie krochen unter die Betten und klopften Wände, Böden und Decken ab, um verborgene Hohlräume aufzuspüren.
Der Anführer und eine Rotgardistin waren fasziniert von Papas Büchern, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten und in Kisten ringsum verstaut waren. Sie kauerten sich neben den Kisten nieder und blätterten jedes Buch durch. Danach warfen sie es entweder beiseite oder legten es in eine Kiste. Schließlich deutete der Anführer auf die vollen Kisten und erklärte: »Die hier sind bourgeoise
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