Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
wurden, trieben sie Papa und die anderen Professoren draußen umher, damit sie körperliche Arbeit verrichteten.
Was ihnen die Rotgardisten besonders gern auftrugen, war das Sammeln von Fäkalien aus den öffentlichen Toiletten und deren Transport zu Gartenparzellen, wo der Kot als Dünger verwendet wurde. Ungeachtet ihres Alters oder Geschlechts, mussten alle Akademiker mit einer Holzkelle die Exkremente aus den Latrinen in Eimer schöpfen. Wenn die Eimer voll waren, banden die Akademiker sie an eine Schulterstange und schleppten sie unter den Schmähungen der Rotgardisten von einer Parzelle zur nächsten. Man befahl den Kuh-Dämonen, sich selbst aller möglichen Verbrechen zu bezichtigen, während sie, gebeugt von ihrer Last, vorantrotteten.
Wenn ein Professor stolperte oder hinfiel und den Inhalt seines Eimers verschüttete, stürzten sich sofort mehrere Rotgardisten auf ihn und zwangen ihn, möglichst viel von dem Kot mit bloßen Händen aufzusammeln und in den Eimer zurückzuschaufeln. Dieser Anblick löste bei den Roten Garden stets große Heiterkeit aus. Sie brüllten vor Lachen, schlugen sich johlend auf die Schenkel und ergötzten sich an der grenzenlosen Demütigung ihrer ehemaligen Lehrer.
Kapitel 18
I m Herbst 1966 war der Lehrbetrieb an den Hochschulen noch immer unterbrochen, und die Studenten widmeten sich weiterhin der Revolution. An Grund- und Mittelschulen hingegen war man zum Alltag zurückgekehrt. Mein älterer Bruder und ich gingen wieder zur Schule, und mein kleiner Bruder Yicun wurde ins Kinderbetreuungszentrum gebracht. Doch die Kulturrevolution durchdrang unser Leben mehr und mehr. Man sonderte Kinder aus schwarzen Familien aus, um sie noch stärker zu isolieren, zu schikanieren und zu bestrafen. Die Lehrer ignorierten bewusst die Taten der roten Schüler oder unterstützten sie sogar. Die drangsalierten schwarzen Schüler fanden nur unter ihresgleichen Sicherheit und Trost. Selbst der dreijährige Yicun wurde zur Zielscheibe von Gehässigkeiten. Zu Hause wurde er immer stiller. Wenn meine Mutter ihn im Kinderbetreuungszentrum abgab, klammerte er sich an sie und heulte.
Eines Vormittags kehrte sie zum Zentrum zurück und spähte unbemerkt hinein. Voller Entsetzen sah sie, wie eine Erzieherin Yicun zu einem Töpfchen in der Ecke des Raums führte. Sie befahl ihm, sich die Hosen auszuziehen und auf dem Topf sitzen zu bleiben. Danach kümmerte sie sich nicht mehr um Yicun, und keines der anderen Kinder spielte mit ihm. Als Ausgleich schenkten ihm meine Eltern zu Hause besonders viel Aufmerksamkeit. Aber es gab niemanden, bei dem sie sich hätten beschweren können.
Meine Eltern wussten nicht, wie es mir in der Schule erging, und ich konnte nur raten, was mein älterer Bruder durchmachte. Jeden Nachmittag und jeden Abend, wenn er seine Hausaufgaben erledigt hatte, spielte er Schach gegen sich selbst. An den Wochenenden saß er stundenlang da, wechselte regelmäßig von einer Seite des Tisches zur anderen und war völlig in sein Spiel vertieft.
Ich hatte immerhin eine Gefährtin in der Not: meine beste Freundin Xiaolan. In der Schule haftete uns dasselbe Etikett an, wir waren »Töchter der Verdammten«. Ihr Vater galt als »notorischer Antirevolutionär«, weil er während des Krieges gegen Japan in der Nationalistischen Armee gedient hatte. Xiaolans Name bedeutete »kleine Magnolie«, was wunderbar zu ihr passte. Sie hatte ein rundes Gesicht und dichtes schwarzes, zu langen Zöpfen geflochtenes Haar. Wenn sie lächelte, leuchtete ihr ganzes Gesicht. Sie sah aus wie die Kinder auf den Propagandaplakaten, die das ruhmreiche China verherrlichten.
Als Xiaolan und ich in jenem Sommer in die dritte Klasse kamen, äußerte sich der Hass der anderen Schüler auf die »kleinen Kuh-Dämonen und Schlangengeister« zunächst in Form von Neckereien. Ältere wie jüngere Schüler verspotteten uns und riefen uns Schimpfworte nach. Manchmal warfen sie einen Stein nach uns, wenn wir ihnen den Rücken zugekehrt hatten. Drehten wir uns dann um, starrte uns eine Gruppe kichernder Schüler herausfordernd an.
Die Jungen zerrten an unseren Haaren und versuchten uns Hosen und Unterwäsche herunterzuziehen. Bald wurden sie noch dreister. Als ich eines Morgens mein Schreibpult öffnete, lag eine große tote Ratte darin. Erschrocken prallte ich zurück. Die anderen beobachteten mich voller Schadenfreude. Ich packte die Ratte an ihrem langen Schwanz, ging hinaus und warf sie in den Schulhof. In den nächsten Tagen
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