Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Abdrücke an meinem Hals sah. Aber das war nicht der Fall. Danach habe ich mir das Bild sehr lange nicht mehr angeschaut.
In den nächsten Wochen kamen immer mehr Soldaten nach Hefei. Jedermann erzählte heldenhafte Geschichten über sie. Ich hörte sie mir an und sagte brav die Verse auf, die man uns über ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit beigebracht hatte. Ich sang Loblieder auf die Onkel Soldaten von der Volksbefreiungsarmee. Doch wann immer ich Soldaten begegnete, suchte ich nach dem Gesicht des Mannes, der mir wehgetan hatte.
Kapitel 16
I n jenem Sommer schlossen sich Studenten zu den Roten Garden zusammen, einer militanten Organisation, die dem Vorsitzenden Mao unbedingten Gehorsam schwor. Die Rotgardisten waren die aggressive Avantgarde der Kulturrevolution. Sie trugen grüne Armeeuniformen mit roten Armbinden. Außerdem hatten sie stets ein rotes, in Plastik gebundenes Büchlein dabei, die
Worte des Vorsitzenden Mao,
das auch als
Mao-Bibel
bekannt wurde.
In Peking loderte das revolutionäre Feuer. Mitte August sprach der Vorsitzende Mao bei einer Kundgebung vor einer Million Rotgardisten auf dem Tiananmen-Platz und ließ sich den Titel des Generals der Roten Garden verleihen. Verteidigungsminister Lin Biao rief die Rotgardisten zum entschlossenen Kampf gegen die Vier Alten auf.
Der Minister für öffentliche Sicherheit erklärte die bestehenden Gesetze der Volksrepublik China für ungültig. Er wies die Polizei an, die Roten Garden bei ihren Aktivitäten nicht zu behindern. »Die Polizei sollte an der Seite der Roten Garden stehen«, verkündete er, sie mit Informationen versorgen und ihnen mitteilen, welche Familien zu den schwarzen zählten. Infolge dieses Aufrufs begannen die Roten Garden mit dem Roten Terror. Sie drangen in Häuser und Wohnungen von schwarzen Familien ein. Besonders schlimm wüteten sie in einem Dorf bei Peking, wo sie Hunderte Menschen ermordeten. Die Kulturrevolution hatte ihre Methoden, ihren Wahnsinn und ihre Henker gefunden.
Rasch verbreitete sich die Nachricht vom Treiben der Roten Garden. Mama kam zu dem Schluss, dass sich unsere Verbannung von Peking nach Hefei, die 1958 nach Papas Deportation ins Straflager angeordnet worden war, im Nachhinein als Segen entpuppte. Wären wir in Peking geblieben, meinte sie, stünden unsere Namen bestimmt ganz oben auf der Feindesliste der Roten Garden, und wir wären womöglich bereits niedergemetzelt worden.
Ich sah, wie Schulkinder aus roten Familien sich an Straßenecken und in Parks versammelten. Sie waren alle mit den neuen Uniformen ausstaffiert, schwenkten das Kleine Rote Buch und riefen im Chor revolutionäre Parolen. Auch Xiaolan und ich bewarben uns um die Mitgliedschaft bei den Kleinen Roten Garden. »Warum sollten wir Feinde des Volkes in unseren Reihen dulden?«, entgegnete der Gruppenführer. »Bleibt uns vom Leib.« Er zerriss unsere Anträge und warf die Fetzen auf den Boden.
Als Rotgardisten aus Hefei im September in ihren Heimatstandort zurückkehrten, führten sie Hausdurchsuchungen durch, um Hinweise auf die Vier Alten zu finden und konterrevolutionäre Verschwörungen aufzudecken. Verdächtige Besitztümer wurden auf der Stelle zerstört oder beschlagnahmt. Bücher, Schriften und Kunstgegenstände, die man zu den Vier Alten zählte, warf man auf die Straße und verbrannte sie dort oder transportierte sie zur Müllhalde ab. Was immer die Roten Garden zur Durchführung ihrer Revolution benötigten, nahmen sie sich von den Eigentümern. Wer Widerstand leistete, musste mit Verhaftung, Schlägen, Gefängnis und oftmals sogar mit der Hinrichtung rechnen.
Erneut organisierte man fanatische, massenwirksame Demonstrationen, um sich auf die Entlarvung und Vernichtung von Klassenfeinden einzustimmen. Morgens, mittags und nachts hielten die Roten Garden Massenkundgebungen ab, bei denen die loyalen Bürger ermahnt, aufgerüttelt und aufgewiegelt werden sollten. Unablässig ergingen Aufrufe, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Die schwarzen Familien duckten sich in der Hoffnung, der Sturm möge vorübergehen oder die Richtung ändern, ehe er über sie hinwegfegte. Doch er nahm mit jedem Tag an Stärke zu. Auf dem Campus zitierte man per Lautsprecherdurchsagen die Kuh-Dämonen und Schlangengeister der Universität zum Sportplatz, wo sie bereits im Juni öffentlich gedemütigt und geschlagen worden waren.
Als Papa hinkam, hatten sich bereits ein Bataillon Rotgardisten und mehrere Tausend ihrer Anhänger versammelt. Man
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