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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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fand ich weitere tote Tiere – Spatzen, Mäuse und Kröten – in meiner Schulbank.
    Es ärgerte die anderen, dass mir ihre Streiche offenbar nichts ausmachten, denn ich ließ mir nichts anmerken. Wie das Vorbild der Roten Garden lehrte, waren zunehmende Schikanen gerechtfertigt, wenn sich jemand nicht einschüchtern ließ. Lehrer und unbeteiligte Schüler sahen, was da vor sich ging, doch die Lehrer drückten beide Augen zu – zum Entzücken der »roten« Schüler. Sie nannten sich Kleine Rote Garden, und ihr Sadismus stand dem der Erwachsenen in nichts nach. Wenn ich ins Zimmer kam, drehten sie sich nach mir um, schauten zu, wie ich meine Schulbank öffnete, und brachen in Gelächter aus, wenn ich vor einer weiteren Abscheulichkeit zurückschrak. Wenn ich dann hinausging, begleiteten mich ihre boshaften Blicke. Sie warteten nur darauf, dass ich ihnen den Gefallen tat und meine Fassung verlor. Die anderen schwarzen Kinder starrten auf ihre Schreibplatten und fürchteten, sie könnten als Nächste an der Reihe sein. Xiaolan musste ähnliche Demütigungen über sich ergehen lassen. Doch auch sie versuchte, stark zu bleiben.
    Eines Tages fand ich einen Haufen menschlicher Exkremente, in Papier eingewickelt, in meinem Pult. Ich musste würgen, während die anderen Schüler sich die Nasen zuhielten, grölten, auf mich deuteten und zurückwichen. Ich legte meine Bücher hin, nahm das Papier an den Enden, ging hinaus und warf den Haufen in die Latrine. Dann musste ich mich einen Augenblick sammeln, um nicht in Tränen auszubrechen. Da tauchte Xiaolan auf. Sie umarmte mich und sagte: »Weine nicht. Gönne ihnen diese Freude nicht.« Als ich zu meinem Platz zurückkehrte, stimmte ich gehorsam in den Sprechchor ein, der Zitate des Vorsitzenden Mao vortrug:
    Die Welt ist euer, wie sie auch unser ist, doch letzten Endes ist sie eure Welt. Ihr jungen Menschen, frisch und aufstrebend, seid das erblühende Leben, gleichsam die Sonne um acht oder neun Uhr morgens. Unsere Hoffnungen ruhen auf euch. Die Welt gehört euch, Chinas Zukunft gehört euch.
    Die Lehrerin sprach ein paar Worte vor, und wir wiederholten sie alle zusammen. Das taten wir jeden Morgen, bis wir Hunderte von Zitaten auswendig gelernt hatten.
    Wir sind imstande, das zu erlernen, was wir vorerst nicht wissen. Wir verstehen es nicht nur, die alte Welt zu zerstören, sondern wir werden es auch verstehen, eine neue aufzubauen.
    Die Neckereien und die tätlichen Angriffe verlagerten sich von der Schule auf die Straße. Die roten Kinder lauerten mir nun nach dem Unterricht auf, verfolgten mich und riefen: »kleine Rechtsabweichlerin« und »kleine stinkende Neunte«. Es gab neun Kategorien von Klassenfeinden: Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, schädliche Elemente, Rechtsabweichler, Verräter, feindliche Agenten, Anhänger des Kapitalismus sowie – als neunte und schlimmste Kategorie – Intellektuelle. Intellektuelle wurden von Mao als »die stinkenden Neunten« bezeichnet.
    Ich blickte stur geradeaus und ging weiter. Doch mein unerschütterlicher Gleichmut stachelte meine Widersacher nur noch mehr an. Sie kamen näher, umzingelten mich, schubsten mich. Ein paar spuckten mich an.
    Je gewaltsamer die Kulturrevolution unter den Erwachsenen verlief, desto aggressiver wurden auch die Kinder. Jeden Nachmittag sah ich auf dem Heimweg Rotgardisten, die Männer und Frauen wie Vieh vor sich her trieben, sie beschimpften, schlugen, auf die Knie zwangen, sie Zitate des Vorsitzenden Mao vortragen ließen und Selbstbezichtigungen von ihnen verlangten. Scharen von Erwachsenen und Kindern sahen diese widerwärtige Parade des Elends mit an und reagierten darauf voller Genugtuung und Verachtung.
    Eines Nachmittags wurde ich wieder von einer Gruppe Schüler verfolgt. Ein Junge rannte zu mir und boxte mich so fest in den Rücken, dass mir die Luft wegblieb.
    »Stinkende Rechtsabweichlerin! Stinkende Rechtsabweichlerin!«, schrie ein Mädchen und lief im Kreis um mich herum.
    Ein zweiter Junge ging auf mich los und schlug mir auf den Hinterkopf. »Blöde Göre«, brüllte er. »Du hast in unserem Klassenzimmer nichts verloren.«
    In meinen Ohren klingelte es. Die Straße schien unter meinen Füßen zu schwanken. Ich starrte den Jungen an und sah Hass und Fanatismus in seinem Gesicht.
    Ein Mädchen packte meine Schultasche und warf Hefte, Bücher und Unterlagen auf die Straße. Rasch hob ich die Tasche auf und sammelte den verstreuten Inhalt wieder ein. Doch ein

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