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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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zurückkomme.«
    »Ja«, nickte ich.
    Ich beobachtete, wie seine Füße sich von mir entfernten und aus den Baumschatten hinaus auf den Pfad traten. Dann wartete ich und lauschte. Als ich nur noch das Prasseln der Regentropfen hörte, brach ich erneut in Tränen aus. Ich betastete die Stelle zwischen meinen Beinen, die sehr weh tat. Außerdem brannte mein Hals.
    Vorsichtig schlich ich zum Wegesrand, spähte den Pfad entlang und sah, wie der Soldat in der Ferne entschwand. Im Regen war er kaum noch auszumachen, ich erkannte ihn nur am Regenschirm und an der grünen Uniform.
    Immer noch weinend, band ich mir die Hose zu und bemerkte einen stechenden Schmerz in meiner Handfläche. Als ich sie näher untersuchte, entdeckte ich einen Einstich. Und zu meinen Füßen schimmerte etwas zwischen den Kiefernnadeln: die Mao-Plakette. Ich hatte sie festgehalten, als der Onkel Soldat mich gepackt und mir die Hose heruntergezogen hatte. Immer wieder hatte ich damit auf seine Hand geschlagen, sodass ich ihm mit der scharfen Nadel den Handrücken aufgerissen und mich damit gestochen hatte, bis mir die Plakette entglitten war. Ich hob sie auf. Das Gesicht des lächelnden Vorsitzenden Mao war blutverschmiert.
    Mit der Plakette in der Tasche stapfte ich hinaus in den Regen. Ich schmeckte Blut in meinem Mund und tastete mit der Zunge nach dem Wattebausch. Er war nicht mehr da. Ich hatte ihn hinuntergeschluckt. Also suchte ich den Waldboden ab und fand die Wattebällchen. Viele waren schmutzig, doch einige waren noch sauber, und ich stopfte mir eins hinten in den Mund.
    Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass auf dem Pfad in beiden Richtungen niemand zu sehen war, rannte ich, so schnell ich konnte, nach Hause.
    Mama starrte mich überrascht an, als ich klitschnass und atemlos in die Wohnung stürmte. »Wo warst du?« Sie sah sofort, dass mein Gesicht rot und verschwollen war. »Was ist passiert?«, fragte sie bestürzt.
    »Ich hab mir einen Zahn ziehen lassen.«
    »Wo?«
    »In der Zahnklinik.«
    »Und woher hast du diese Kratzer?«, fragte sie und betrachtete die Schrammen auf meinem Gesicht und meinem Hals.
    Ich zögerte einen Moment. »Die Schwester hat mich festgehalten, während der Zahnarzt mir den Zahn gezogen hat«, log ich schließlich. »Er wollte einfach nicht raus.« Ich wich ihrem Blick aus.
    Meine Worte hingen in der Luft, während Mama die Schrammen untersuchte. »Sehr seltsam«, stellte sie fest. »Das stammt von der Schwester?«
    »Ja.«
    »Und warum hast du geweint, Maomao?«
    »Es hat wehgetan.«
    »Sonst war nichts?« Mit mitfühlendem Blick musterte sie mich.
    »Nein.«
    Als sie mir dann sachte über den Hals streichelte, hätte ich ihr beinahe alles erzählt. Aber ich hatte Angst, dass der Soldat es herausfinden würde. Dann würde er mich suchen und mir noch mehr wehtun. Deshalb verriet ich niemandem etwas von dem Onkel Soldat. Doch nie vergaß ich seine Stimme, seine Augen, seine Hand, die mich würgte, und seine Finger zwischen meinen Beinen. Niemals.
    Ich zog die Plakette des Vorsitzenden Mao aus der Tasche. Da ich nicht so recht wusste, was ich damit tun sollte, schob ich sie mir unters Kopfkissen. Mitten in der Nacht schreckte ich aus dem Schlaf, denn ich hatte im Traum die Stimme des Onkels Soldat gehört. Zitternd lag ich wach, bis der Morgen graute, und dachte an das, was er getan hatte. Als ich den Ruf des Milchmanns hörte, stand ich auf. Beim Anziehen sah ich Blutflecken auf meinem Laken und in der Unterhose. Ich zog eine frische an und versteckte die blutige, damit Mama mich nicht deswegen ausfragte. Nachmittags, als meine Eltern nicht zu Hause waren, wusch ich die Unterhose und das Bettlaken.
    Gegen Ende dieser Woche ließ Mama mich und meine beiden Brüder in einem kleinen, billigen Studio fotografieren. Wir mussten unsere besten Sachen anziehen, und so trug ich die rotschwarz karierte Bluse, die ich auch in der Zahnklinik angehabt hatte. Um unsere Liebe zum Vorsitzenden Mao zu zeigen, hatte jeder von uns eine Plakette angesteckt, meine Brüder eine kleine, ich jedoch die große. Mama hatte ich erzählt, dass ich sie auf der Straße in der Nähe der Zahnklinik gefunden hätte.
    Zwei Wochen später holte Mama das Foto ab und klebte es in unser Familienalbum. Auf dem Bild stehe ich strahlend zwischen meinen Brüdern, und meine Mao-Plakette ist deutlich zu sehen. Papa und Mama fanden die Aufnahme sehr gelungen. Ich schaute sie mir an, kurz nachdem Mama sie geholt hatte. Ich wollte feststellen, ob man die

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