Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Blatt Papier wirbelte immer wieder davon, wenn ich mich danach bückte.
»Seht euch nur diese blöde tanzende Kuh an«, kreischte ein Junge, woraufhin sich die anderen vor Lachen kaum halten konnten. Ein Mädchen mit vor Hass gerötetem Gesicht sprang vor, stellte einen Fuß auf das Blatt und riss mir ein Büschel Haare aus. Ich fiel auf den Betonboden, rappelte mich aber wieder auf und stopfte das schmutzig gewordene Blatt in den Ranzen. Nun schlossen die Kinder ihren Kreis noch enger um mich. Herausfordernd standen sie da, breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt, das Kinn gereckt. Als ich in eine Richtung flüchten wollte, vertrat mir ein Junge den Weg. Und sie riefen im Chor: »Kleines schwarzes Scheusal, kleines schwarzes Scheusal, kleines schwarzes Scheusal.«
Da rastete ich aus. Ich hieb mit meinem Schulranzen um mich und erwischte einen Jungen im Gesicht. Dann machte ich einen Satz nach vorn, packte ein Mädchen an den Haaren, zog ihren Kopf nach unten und beutelte sie hin und her, dass sie aufheulte. Im Nu fielen die anderen von hinten über mich her, trommelten mit Fäusten auf mich ein und zerrten an meinen Haaren. Aber ich krallte mich wie eine Besessene in das Haar des Mädchens.
Ich hatte keine Angst mehr. Während die anderen auf mich einschlugen, schleuderte ich meine Tasche herum und schlug wild um mich. Ich fletschte die Zähne und schnappte sogar nach ihnen. Irgendwann stellte mir jemand ein Bein, ich stolperte und fiel rücklings hin. Benommen hielt ich inne und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Unschlüssig standen die anderen über mir. Das Mädchen schrie, sie sollten mich umbringen, blieb aber selbst in sicherer Entfernung.
Der größte Junge sah keuchend und mit geballten Fäusten zu mir herab. »Du blödes kleines Rechtsabweichler-Miststück!«, fauchte er. Dann wandte er sich ab und legte den Arm um seine heulende Kameradin. Schließlich zogen die Kinder ab. Dabei sangen sie Lieder mit Zitaten des Vorsitzenden Mao.
Ich hatte Schrammen und blaue Flecken an Armen und Beinen und im Gesicht. Ich weinte und zitterte so heftig, dass ich kaum stehen konnte. Nach Luft ringend, setzte ich mich auf den Bordstein und presste die zitternden Hände fest aneinander, um mich zu beruhigen. Was war passiert?, fragte ich mich. Woher hatte ich diese Kraft, diesen Mut und diese unglaubliche Wut genommen?
Zu Hause wusch ich meine verschmutzten Kleider und nähte den Riss in der Bluse, bevor Mama ihn bemerkte. Als ich meine Kopfhaut im Spiegel untersuchte, fand ich eine kahle Stelle, wo mir das Mädchen die Haare ausgerissen hatte. Ich drapierte mein Haar um die Stelle und machte mir mit einem Gummiband einen Pferdeschwanz. Später erzählte ich Xiaolan, was geschehen war. Sie lachte, als sie hörte, wie ich mich gewehrt hatte. »Maomao, jetzt haben sie dich wirklich auf dem Kieker«, warnte sie mich.
Gemeinsam beratschlagten wir, wie wir ihrer Rache entgehen konnten. Wir gingen das ganze Universitätsgelände ab und suchten nach einem Weg, hinauszugelangen, ohne das Haupttor benutzen zu müssen. Und tatsächlich fanden wir eine geeignete Stelle in der Campusmauer, die hinter Gebüsch verborgen lag. Dort war der Mörtel herausgebröckelt, und einige Ziegel waren lose. Wir zogen sie heraus und hatten nun ein Loch, das groß genug war, um sich hindurchzuzwängen. Durch dieses Loch schlüpften wir hinaus und machten einen anderen Weg zur Schule ausfindig.
An diesem Tag verfolgte uns niemand. Am nächsten Morgen trafen wir uns vor Xiaolans Wohnhaus und eilten zu unserem geheimen Durchschlupf. Nachdem wir durchgekrochen waren, spähten wir die Straße zum Haupttor entlang und sahen dort einige von den Schülern herumlungern, die mich gejagt hatten. Ich machte Xiaolan auf sie aufmerksam, und wir mussten an uns halten, um nicht laut loszulachen. Dann liefen wir durch Gassen und Nebenstraßen, durch die wir noch nie gegangen waren, zur Schule. Diese Strecke nahmen wir von nun an immer. Bald gaben wir dem sichelförmigen Loch in der Mauer auch einen Namen: Mondtor.
So entkamen wir unseren Peinigern in den nächsten Wochen. Und wir hofften, dass sie es irgendwann satthaben würden, nach uns zu suchen.
Doch bald bekamen wir Ärger mit einer anderen Gruppe.
Kapitel 19
E ine unserer gemeinsten Klassenkameradinnen war Sun Maomao, ein großes, launisches Mädchen. Ihr Vater war damals Rektor der Universität, ein mächtiger Mann, der seine Position ungeniert zu seinem persönlichen Vorteil nutzte.
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