Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
fest unter den Arm geklemmt, weiter zur Schule, während die Schuldzuweisungen durch die Straßen getrieben, zerfetzt und zerrissen wurden oder sich in Baumkronen und Fahrradspeichen verfingen. Erwachsene wichen diesen Plakatresten aus, als wären sie giftig oder mit einem Fluch behaftet. Aber Xiaolan und ich flitzten furchtlos zwischen ihnen hindurch.
Bei Regen verschmierte die Tinte und lief die Wandzeitungen hinunter. Dann verwandelten sich die Schriftzeichen in Blumen, Wolken, blutrote Flecken und Farbcollagen – ein schöner Anblick. Manchmal sahen wir in den Klecksen Menschen- oder Tiergesichter. Manchmal bildete die zerlaufende Tinte auch Ungeheuer, und wir rannten in gespieltem Schrecken kreischend vor dem bunten Papier davon.
In diesem Herbst und Winter verbrachten wir viel Zeit mit Spielen. Doch wir überlegten auch, wie wir uns den Suns entziehen und ein bisschen Sicherheit und Kameradschaft genießen konnten.
An einem Morgen nach Einbruch des Winters wartete ich vor Xiaolans Wohnblock, um mit ihr zusammen zur Schule zu gehen. Als sie kam, sah sie traurig aus.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Papa hat gesagt, ich darf nicht mehr mit dir zur Schule gehen. Ich darf auch nicht mehr mit dir reden oder spielen«, gab sie zur Antwort.
»Aber warum denn?«, fragte ich.
»Darum, Maomao. Einfach darum.« Sie nestelte an ihrer Schultasche. »Papa sagt, wenn die Leute sehen, dass wir miteinander sprechen oder spielen, werden sie behaupten, dass wir Informationen für unsere Eltern austauschen.«
»Aber das stimmt doch gar nicht.«
»Sun Maomaos Vater hat Papa gewarnt. Also … also können wir keine Freundinnen mehr sein.«
Widerspruch war zwecklos. »Na gut, Xiaolan«, sagte ich, und mir brach die Stimme dabei. »Ich werde mich von dir fernhalten. Aber ich werde immer deine Freundin sein. Das weißt du, ja?«
»Alles Gute, Maomao.« Mit einem Seufzer eilte sie davon. Ich sah ihr nach, wie sie durch das Mondtor schlüpfte. Sie blickte sich nicht einmal zu mir um.
Von diesem Tag an waren wir den Suns allein ausgeliefert.
Doch im November drehte sich der politische Wind. Sun Maomaos Vater wurde von den Rotgardisten scharf kritisiert. Man bezeichnete ihn als einen »Kapitalistenhelfer an der Macht«. Er büßte seinen Titel und seine Stellung ein und verlor alle Befugnisse und Privilegien. Über Nacht wurde aus seiner roten Familie eine schwarze. Die Jäger waren jetzt die Gejagten: Sun Maomao und ihre Geschwister wurden Freiwild für die Kinder roter Familien. Ich hatte keine Angst mehr vor ihnen, ja, sie taten mir fast schon leid.
Als ich eines Tages von der Schule nach Hause ging, kam ich an Sun Maomaos Vater vorbei, der mit Schandmütze und gesenktem Kopf auf einem Podest stand. Er wurde von ehemaligen Studenten und Kollegen beschimpft und geschlagen, die bald schon auf derselben Bühne ihren Auftritt haben sollten. Am nächsten Tag wurde ich Zeugin, wie Jungen die Brüder von Sun Maomao die Straße hinunterjagten und mit Steinen bewarfen. Ein andermal beobachtete ich amüsiert, wie Sun Maomao sich verstohlen durch unser Mondtor zwängte und nach Hause rannte.
Doch es gab einen Unterschied zwischen den Suns und der Familie von Xiaolan und meiner. Sie konnten kein Leid ertragen. Sie konnten nur anderen Leid zufügen.
Als Sun Maomaos Vater eines Nachmittags wie ein Hund an einer Leine über den Campus gezerrt wurde, brach er zusammen. Die Rotgardisten vermuteten, dass er ihnen etwas vorspielte. Und so traten sie auf ihn ein, zogen ihn auf die Beine, ohrfeigten ihn und übergossen ihn mit mehreren Kübeln Wasser. Doch es gelang ihnen nicht, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Enttäuscht und verärgert packten sie ihn an den Füßen und zerrten ihn in seine Wohnung, wo sie ihn einfach liegen ließen. Seine Frau brauchte über eine Stunde, um Hilfe aufzutreiben und ihn in ein Krankenhaus zu schaffen. Die Ärzte stellten fest, dass er nicht aus Erschöpfung zusammengebrochen war, sondern einen Schlaganfall erlitten hatte.
Wieder bei Bewusstsein, konnte er sich weder bewegen noch sprechen. Seine Familie nahm ihn mit nach Hause, um ihn dort zu pflegen. In wenigen Wochen wurde er ganz blass und dünn, seine Augen trübten sich, sein Haar färbte sich weiß und fiel aus. Tag für Tag saß er festgeschnallt auf einem Stuhl und starrte mit leerem Blick zu Boden.
Eines Nachts stand Sun Maomaos ältester Bruder auf, ging zu dem nahen Teich und stieg hinein, immer weiter, bis er ertrank. Als die Rotgardisten
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