Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
geschlossen blieb, auch wenn die Suns dagegen hämmerten und Flüche und Drohungen ausstießen. Jedes Mal, wenn es ihnen gelang, die Tür einen kleinen Spalt aufzudrücken, stemmten wir uns erneut mit aller Kraft dagegen, bis die Lücke wieder kleiner wurde und die Tür erneut ins Schloss fiel.
»Sind das wirklich nur zwei?«, fragte einer der Suns. »Bist du ganz sicher?« Die Verzweiflung verlieh uns Bärenkräfte.
»Wir haben alle Zeit der Welt, ihr kleinen schwarzen Schlampen«, rief einer der Sun-Brüder. »Je länger wir hier draußen warten müssen, umso schlimmer wird es für euch. Also, kommt raus und holt euch eure Strafe ab.«
Doch das hatten wir ganz bestimmt nicht vor. Schließlich verkündete Sun Maomaos großer Bruder: »Wir bleiben hier, bis ihr rauskommt. Wir sparen uns unsere Kräfte auf, und dann prügeln wir euch windelweich.« Eine Zeit lang blieb es still, dann kreischte Sun Maomao: »Ihr dreckigen schwarzen Schlampen, kommt endlich raus, sonst … sonst lass ich meine Brüder Feuer legen. Dann seh ich euch Schlampen brennen.«
Wir wussten nicht genau, was uns erwartete, wenn wir das Klassenzimmer verließen, doch wir konnten es uns sehr gut vorstellen. Also warteten wir ab, während die Suns draußen krakeelten.
Stunde um Stunde verstrich. Wir hörten sie flüstern und zur Tür schleichen, wo sie probeweise dagegendrückten. Die Dämmerung brach herein, und bald darauf war es stockfinster. Ob uns wohl unsere Eltern suchen würden?
Irgendwann war draußen kein Laut mehr zu hören. Wir öffneten die Tür einen winzigen Spalt und spähten hinaus. Niemand zu sehen. Wir schoben sie ein Stückchen weiter auf, um festzustellen, ob die Suns uns auflauerten. Nichts rührte sich. Und so beschlossen wir, uns aus dem Staub zu machen. Vor der Tür blieben wir noch einen Moment reglos stehen und lauschten. Offenbar hatten die Suns die Geduld verloren. Doch wir wussten, dass sie zurückkommen würden. Unsere Bestrafung war nur aufgeschoben.
Xiaolan und ich rannten zu unseren Wohnblocks. In der Ferne hörten wir erschreckende Sprechchöre. Mit großen Schriftzeichen bemalte Wandzeitungen waren an die Hausmauern geklebt oder hingen von Leinen und Kabeln herunter. Wie sie so in der Brise wehten, erinnerten sie an Flaggen oder Leichentücher. Die karikierten Gestalten auf den Plakaten blickten wie eine Galerie von Geistern auf uns herab, als wir eilends vorbeiliefen.
Als ich an einem Sonntagvormittag vom Markt nach Hause ging, tauchten Sun Maomao und ihre Geschwister aus einer Gasse auf und umringten mich. Sun Maomao riss mich an den Haaren, ihre Brüder und Schwestern knufften und traten mich. Meine Einkäufe fielen zu Boden, die Eier zerbrachen. »Du bist Xiaolans Freundin«, schrie der älteste Bruder. »Für jedes Haar, das Xiaolan meiner Schwester ausgerissen hat, wirst du mit zehn bezahlen.«
Sie rissen mir Haare aus und traten mich, bis ich meinen Widerstand aufgab und es ihnen keinen Spaß mehr machte, mich weiter zu schlagen. Sie klaubten das ringsum verstreute Gemüse auf und rannten fort. Dabei lachten sie und riefen: »Lang lebe die Große Proletarische Kulturrevolution!«
Xiaolan und ich nahmen uns weiterhin in Acht vor den Suns. An mehreren Nachmittagen lauerten sie uns auf und verfolgten uns. Einmal erwischten sie Xiaolan allein auf der Straße und verprügelten sie ganz fürchterlich.
Mein einziger Trost war, dass Xiaolan und ich weiterhin treu zueinander standen. Wenn ich sie morgens sah, hatte sie stets ein frisch gewaschenes Gesicht, trug saubere Kleider, und alle Risse waren geflickt. Sie freute sich immer, mich zu sehen. Wir schlüpften durch unser privates Mondtor hinaus in die feindliche Welt – Schwestern, die in der Welt der großen Revolution zu Opfern geworden waren.
Wenn wir zur Schule rannten, wirbelten Zettel und Papierschnipsel um uns herum, Fetzen von alten Wandzeitungen, die der Wind abgerissen hatte. Manchmal fegte eine Böe nicht nur eine Ecke, sondern ein ganzes Plakat weg, das dann die Straße entlangflatterte. Wir rannten ihm hinterher. Manchmal konnte man die Schriftzeichen noch entziffern: »Feind«. »Rechtsabweichler«. »Verräter«. »Tod«. »Umbringen«. Oder es waren Anschuldigungen, die mitten im Satz auseinandergerissen waren. Plakatfetzen klebten an unseren Schienbeinen, wenn wir gegen den Wind liefen. Wir kicherten und hüpften hoch oder blieben stehen, um uns von den schmutzigen Papierstreifen zu befreien.
Dann rannten wir, die Büchertaschen
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