Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
Vom Netzwerk:
Seine Familie führte ein luxuriöses Leben, selbst in entbehrungsreichen Zeiten hatten sie stets gutes Essen auf dem Tisch.
    Meine Eltern standen auf seiner Hassliste weit oben. Vor einigen Jahren hatte der Rektor auf einer politischen Versammlung der Fakultätsangehörigen eine lange Rede über Geburtenkontrolle gehalten, die als Direktive und Kritik verstanden werden sollte. Damals hatten meine Eltern bereits zwei Kinder, und meine Mutter war abermals schwanger. Bei den Worten, dass für schwarze Familien die Ein-Kind-Politik das Beste sei, sah er sie direkt an. »Es ist unverantwortlich und unpatriotisch, wenn schwarze Familien mehr als ein Kind haben«, erklärte der sechsfache Vater. »Wer mehr Kinder in die Welt setzt, muss mit härtesten Konsequenzen rechnen.«
    Eines Morgens vor Schulbeginn spielten Xiaolan und ich unauffällig in einer Ecke des Schulhofs. Wir hatten herausgefunden, dass man aus der Fingerhirse einen leckeren, süßen Saft heraussaugen konnte, wenn man sie büschelweise ausriss, um dann die Wurzeln zu säubern und zu zerkauen. Und so knieten wir kauend auf dem Boden, woben aus den ausgelutschten Wurzeln und Stängeln ein Vogelnest und sprachen über die Vögel, die kommen und ihre Eier in unser Nest legen würden. Wir malten uns aus, wie sie aussehen würden, schwärmten von ihren wundervollen Farben und überlegten, von welcher Farbe die Eier sein würden und wie vielen kleinen Vögeln wir beim Großwerden zusehen könnten. In unserer Stadt gab es fast keine Vögel mehr. Acht Jahre zuvor waren mit einer fanatischen Kampagne in den Städten wie auf dem Land alle Wildvögel ausgerottet worden, weil der Vorsitzende Mao glaubte, es seien Schädlinge, die den Menschen das Getreide wegfraßen.
    Xiaolan trug eine neue Bluse, deren weißer Stoff mit winzigen blauen Blumen bedruckt war. Ihre Mutter hatte sie ihr genäht, und Xiaolan war sehr stolz darauf. Als es klingelte, rannten wir ins Schulhaus. Doch Xiaolan hielt noch immer das Vogelnest in den Händen. Sie wollte es nicht einfach fallen lassen, wusste aber, dass sie Ärger bekommen würde, wenn sie es ins Klassenzimmer mitnahm. »Schau, Maomao!«, rief sie.
    Ich drehte mich um und sah, wie sie das Nest hoch in die Luft warf, als wäre es ein Vogel, der davonfliegen wollte. Doch da löste es sich schon in seine Einzelteile auf, in feuchte Wurzeln und Stängel, die auf die hinter uns gehende Sun Maomao herabregneten. Sun Maomao wurde zur Furie. Sie packte Xiaolan am Kragen, ohrfeigte sie und kreischte: »Wie kannst du es wagen, du kleine verderbte Konterrevolutionärin!«
    Xiaolan versuchte sich loszureißen, aber Sun Maomao ließ nicht locker. Als sie miteinander rauften, zerriss Sun Maomao Xiaolans Bluse. Ich warf mich dazwischen und schubste Sun Maomao beiseite, die über ihre Füße stolperte. »Du rechte Schlampe«, kreischte sie und wollte sich auf mich stürzen. Doch da stellte sich ihr Xiaolan in den Weg. Sie war halb nackt – Sun Maomao hielt immer noch ein Stück von ihrer neuen Bluse in der Hand. Blitzschnell wie eine wilde Katze zerkratzte Xiaolan ihr das Gesicht. Mit einem Schrei ließ Sun Maomao den Stoff los und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Meine Augen!«, schrie sie. »Du hast mir die Augen verletzt!« Xiaolan ließ von ihr ab, schnappte sich die Überbleibsel ihrer zerrissenen Bluse und rannte nach Hause. Sun Maomao kauerte auf dem Boden.
    Alle ihre fünf Geschwister besuchten unsere Schule oder die Mittelschule in der Nähe. Und sie planten ihre Rache gründlich, genau wie die Erwachsenen.
    Am nächsten Nachmittag nahmen Xiaolan und ich an einer Probe der Maoistischen Propaganda-Gruppe unserer Schule teil. Die besten Sängerinnen und Tänzerinnen sollten ausgewählt werden und dann auf der Straße und vor anderen Schulklassen und Schulen auftreten. Nach einer Stunde Singen und Tanzen gingen die Schüler und die Lehrer nach Hause. Nur Xiaolan und ich blieben zurück, um den Boden zu fegen und die Tafel zu wischen. Bisher hatte man uns nicht verboten, an solchen Proben teilzunehmen, aber wir mussten zusätzliche Aufgaben erledigen. Als wir fertig waren, nahmen wir unsere Bücher und gingen zur Tür. Draußen wartete Sun Maomao mit ihren sämtlichen Geschwistern auf uns.
    »Da sind sie!«, rief Sun Maomao, und alle stürzten auf die Tür zu. Wir flitzten zurück ins Klassenzimmer, warfen die Tür ins Schloss und schoben eine Schulbank davor. Dann stemmten wir uns mit dem Rücken gegen die Bank, damit die Tür

Weitere Kostenlose Bücher