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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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am nächsten Morgen seinen Leichnam entdeckten, beschimpften sie den Verstorbenen und warfen seine sterblichen Überreste den wilden Hunden vor der Stadtmauer vor.
    Nach dem Sturz der Suns konnten Xiaolan und ich uns wieder treffen. Wir spielten wie früher miteinander und gingen Hand in Hand zur Schule. Eines Morgens kamen wir an Sun Maomao vorbei, die vor ihrem Wohnblock auf einem kleinen Hocker saß. Mit lauter, schriller Stimme sang sie sinnlose Reime. Als sie uns erblickte, verstummte sie und starrte uns an, als hätte sie uns noch nie gesehen. Wir gingen weiter, gefolgt von ihren Blicken. Plötzlich stieß sie hysterische Schreie aus und fing an, sich die Haare zu raufen. Xiaolan und ich rannten los, und Sun Maomaos Schreie verhallten hinter uns.
    Sie hatte den Verstand verloren und wurde nie mehr gesund.

Kapitel 20
    E ines Nachmittags hörte ich, wie sich wieder einmal der Mob unserer Wohnung näherte. Ich lauschte den schon vertrauten Hasstiraden, die immer lauter wurden, je näher die Meute kam.
    »Nieder mit Jiang Zhongjie!«, brüllten die Leute.
    Meine Großmutter Jiang Zhongjie saß auf dem Bett neben meinem und hatte meinen kleinen Bruder auf dem Schoß. Ich sah sie an, doch sie wandte den Blick ab und richtete ihn auf die Tür. Mein Bruder blieb wie erstarrt auf ihrem Schoß sitzen.
    Kaum war die Haustür auf gestoßen worden, donnerten Fäuste an unsere Tür, begleitet von lauten Rufen: »Aufmachen!«
    Mein Vater eilte zur Tür. Gleich darauf stürmten Rotgardisten in unsere Wohnung und brüllten: »Nieder mit der Grundbesitzerin Jiang Zhongjie. Wo ist sie? Wo ist die Verbrecherin?« Sie hatten herausgefunden, dass ihre Familie vor der Machtergreifung der Kommunisten 1949 in Yangzhou Land besessen hatte.
    Zwei Mädchen entdeckten meine Großmutter, stürzten durchs Zimmer auf sie zu und packten sie an den Armen. »Hau ab!«, brüllte die eine meinen kleinen Bruder an, der immer noch auf ihrem Schoß saß. Wimmernd ließ er sich zu Boden fallen. Die Rotgardisten rissen meine Großmutter hoch.
    »Darf ich noch auf die Toilette gehen … bitte?«, brachte sie demütig über die Lippen.
    »Willst du etwa Zeit schinden, du dreckige Grundbesitzerin?«, schrie eine Rotgardistin sie an.
    Da erschien meine Mutter in der Tür und erklärte, dass Großmutter an Diabetes litt und deshalb oft zur Toilette musste. »Ich helfe ihr, aufs Klo zu gehen«, sagte sie. In unserem Haus gab es auf jedem Stockwerk eine Gemeinschaftstoilette. Die Anführerin der Rotgardisten, ein verschlagen wirkendes Mädchen mit schmalen Augen und flachem Gesicht, fragte: »Garantierst du uns, dass sich diese Grundbesitzerin nicht aus dem Fenster stürzt und durch Selbstmord der revolutionären Gerechtigkeit entzieht?«
    »Ja, das tue ich«, erwiderte Mama. »Sie wird mit euch gehen. Aber mit ihren gebundenen Füßen kommt sie nicht weit.«
    Mama half Großmutter zur Toilette. Drei Rotgardistinnen postierten sich vor der Tür, um einen Fluchtversuch zu verhindern.
    Wenige Minuten später humpelte Großmutter heraus und verschwand in der johlenden Menge aus uniformierten Jungen und Mädchen.
    Ich stand wie angewurzelt da. Mein kleiner Bruder schluchzte: »Ich will zu Großmutter!« Mama eilte zu ihm und nahm ihn auf den Arm. Alle schienen völlig ratlos zu sein.
    Fast drei Stunden später hörte ich den vertrauten Schritt meiner Großmutter, die langsam die Treppe hinaufstieg.
    Ihr Haar, das sie sonst ordentlich in einem Knoten trug, hing wirr und zerzaust herab. Die Bluse war zerrissen. Auf ihrem Gesicht glänzte Schweiß. Papa half ihr, sich hinzusetzen, und reichte ihr eine Tasse Wasser.
    »Sie haben mich zum Sportplatz gebracht«, sagte sie langsam, als erwache sie eben aus einem Albtraum. »Dort waren auch noch andere alte Leute. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und Schandmützen aufsetzen. Die Rotgardisten haben uns geschlagen, während die Menge uns beschimpfte. Sie haben mir das Haar gelöst und gedroht, es abzuschneiden.«
    Großmutter versuchte, einen Schluck Wasser zu trinken, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Tasse nicht an die Lippen führen konnte. Mama nahm die Tasse und half ihr beim Trinken.
    »Sie haben uns befohlen, Hefei innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen«, fuhr Großmutter fort. Sie begann zu weinen. »Was soll ich nur tun?«, schluchzte sie. »Womit habe ich das verdient mit meinen siebzig Jahren?«
    Jemand hämmerte gegen unsere Tür. Papa sprang auf und öffnete ängstlich.

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