Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
kleines rundes Fenster in Richtung Osten war die einzige Lichtquelle. Ein Steinmetz hatte einen Familienstammbaum, der achtzehn Generationen zurückreichte, in Granit gemeißelt. Dieser Stein war zwei Meter hoch, einen Meter breit, einen halben Meter dick und stand auf einem schwarzen Granitsockel. Einst hatten auch die Porträts verschiedener Vorfahren die Wände des Schreins geschmückt.
Bei der Aufteilung des Hauses hatte man die Gemälde abgenommen, doch es erwies sich als unmöglich, den Stein zu entfernen, ohne das Mauerwerk zu zerstören. Also hatten die Beamten das Zimmer verschlossen und den Stein an Ort und Stelle gelassen. Zu Beginn der Kulturrevolution hatten die Roten Garden vergeblich versucht, das Denkmal auf die Straße zu zerren. Also hatten sie es nur umgestürzt und mit Meißeln ein paar Namen unleserlich gemacht. Der liegende Granitstein bedeckte fast den ganzen Boden und blockierte die Tür. Deshalb konnte sie nur einen Spalt weit geöffnet werden, sodass Großmutter sich hindurchzwängen konnte. Da es in dem Zimmer keinerlei Möbel gab, diente ihr der Stein als Bett.
Sie lebte in ständiger Angst: vor den anderen Hausbewohnern, vor den Roten Garden, vor den örtlichen Beamten. Wegen ihrer Diabetes musste sie sich zweimal täglich Insulin spritzen. Was war, wenn sie es sich nicht mehr leisten konnte oder die Apotheke es ihr verweigern würde?
Also halbierte sie die Dosis.
Später erfuhren wir, dass sie wegen dieser Unterdosierung manchmal ins Koma gefallen war. Wenn sie im Flur zusammenbrach, stiegen die anderen Hausbewohner einfach über sie hinweg.
Meine Eltern schickten ihr jeden Monat Geld, aber weil das Gehalt meines Vaters so drastisch gekürzt worden war, konnte er sie nur ungenügend unterstützen. Als das Geld eines Monats später eintraf, sorgte sich meine Großmutter noch mehr und reduzierte abermals ihre Insulindosis. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends.
An einem Nachmittag im Sommer 1967 legte sie sich auf ihr Granitbett, hüllte sich in eine Decke und verlor wieder einmal das Bewusstsein. Ihr Insulinschock blieb mehrere Stunden unbemerkt. Sie starb noch am selben Abend, allein, auf einem Steinbett, das die Namen ihrer Vorfahren trug, in einem Haus, das einst ihrer Familie gehört hatte. Unter den Namen auf jenem Stein befanden sich auch der ihres Großvaters und der des Urgroßvaters ihres Cousins Jiang Zemin, des späteren chinesischen Präsidenten.
Durch ein Telegramm erfuhr Papa von ihrem Tod. Er beantragte Urlaub, um nach Yangzhou zu fahren. Doch als ihm dieser gewährt wurde, war die von seinem Cousin arrangierte Trauerfeier bereits vorbei. Papa kam gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung. Er blieb noch eine Weile in der Stadt, die er 1937 verlassen hatte, und besuchte Plätze und Menschen, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Wieder daheim, meinte er zu Mama, dass Großmutter zehn Jahre lang ein einsames Witwendasein geführt hatte, bis er aus Amerika zurückgekehrt war. Dann war sie zu ihm gezogen und hatte damit gerechnet, ihre letzten Jahre in Frieden zu verbringen.
Mama fragte, ob er bei der Bestattung seiner Mutter geweint habe.
»Nein. Ich habe keine Tränen mehr für die Toten«, erwiderte Papa. »Ich weine nur noch um die Lebenden.«
Kapitel 21
E nde 1967 spalteten sich die Roten Garden in zwei Fraktionen und bekämpften einander mit Schwertern, Schnellfeuergewehren und Granaten. Jede dieser Gruppen in Hefei behauptete, sie seien die Guten und die anderen der letzte Dreck. In beiden Fraktionen gaben Studenten und Oberschüler den Ton an, manche von ihnen waren kaum älter als ich. Als sich die Fabrikarbeiter in die Kämpfe einmischten, nahmen die Auseinandersetzungen an Brutalität zu. Die Produktion in Hefei und anderen Städten kam zum Erliegen. Aus Straßen wurden Schlachtfelder.
Kurz nach dem Beginn der Kämpfe stürmten bewaffnete Rotgardisten unsere Schule und brüllten:
»Nie wieder Schule. Raus hier!«
Sie schwenkten ihre Waffen über den Köpfen, während sie von Klassenzimmer zu Klassenzimmer rannten. Entsetzt ließen Schüler und Lehrer Bücher und Hefte liegen und flohen. Binnen weniger Stunden hatten die Roten Garden das Gebäude in eine Festung verwandelt. Die Besetzer meiner Schule nannten sich die Jinggangshan-Rotgardisten, nach den Bergen, in denen der Vorsitzende Mao während des Bürgerkriegs gelebt hatte. Sie postierten Wachen und Scharfschützen an den Fenstern und auf dem Dach.
Tag und Nacht waren
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