Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Detonationen und Gewehrfeuer zu hören. Gefangene oder Verhaftete wurden umgehend öffentlich hingerichtet. Jungen und Mädchen baumelten von Bäumen und von Gebäuden – mit Schildern um den Hals, auf denen ihre Verbrechen benannt wurden. In den Zeitungen erschienen Fotos von den Toten, Flugblätter berichteten in allen Einzelheiten über die Kämpfe und listeten die »Märtyrer der Revolution« auf. Nahrungsmittel wurden ständig teurer. Fleisch verschwand ganz von den öffentlichen Märkten. Gemüse und Mehl gab es nur in kleinen Mengen, dank ein paar weniger unerschrockener Händler, die in unregelmäßigen Abständen auftauchten und wieder verschwanden. Der öffentliche Verkehr kam zum Erliegen. Jeder konnte verhaftet, erschossen, erstochen oder gehängt werden, wenn er sich auf die Straße wagte.
Inmitten all der Brutalität und des Chaos hörte ich eines Morgens den Milchmann rufen. Seit etlichen Wochen hatte ich seine Stimme nicht mehr gehört. Überrascht rannte ich die Treppe hinunter, doch er war nirgends zu sehen. Da entdeckte ich sein umgeworfenes Fahrrad. Zerbrochene Flaschen lagen in einer Milchpfütze. Nicht weit davon saß ein Dutzend Rotgardisten im Kreis auf dem Gehweg und trank Milch. Zwei von ihnen hatten Gewehre geschultert, neben einem dritten lag ein Eisenrohr.
Dort, wo der Milchmann gewöhnlich sein Fahrrad abstellte, war der Gehweg blutbespritzt. Ein Rotgardist entdeckte mich, und seine Augen verengten sich. Während er mich wütend anfunkelte, sagte er etwas zu den anderen, die sich ebenfalls zu mir umwandten. »Verschwinde, bevor wir dir den Hals umdrehen!«, brüllte einer.
Ich ließ den Topf fallen und stürmte die Treppe hoch. Kaum war ich in der Wohnung, schlich ich auf Zehenspitzen zum Fenster und spähte zu den Rotgardisten hinunter. Sie warfen die leeren Milchflaschen hoch in die Luft und lachten, wenn das Glas auf der Straße zerschellte. Einer von ihnen hob das Fahrrad des Milchmanns auf und fuhr damit davon. Die anderen rannten ihm lachend nach und versuchten aufzuspringen.
Ich ging wieder nach unten, um den Topf zu holen und nach dem Milchmann zu schauen. Eine Blutspur führte um die Ecke, endete dort aber in einer großen dunklen Lache. Ich rief nach dem Milchmann. Doch niemand antwortete.
Angesichts der eskalierenden Gewalt fanden bis auf Weiteres keine politischen Versammlungen und öffentlichen Selbstbezichtigungen statt. Viele Studenten und Angehörige der Universität flohen aus Hefei und suchten andernorts bei Verwandten und Freunden Zuflucht. Die Familie meiner Mutter lebte im fernen Tianjin, und meine Eltern fragten sich, ob wir dort nicht sicherer wären. Züge fuhren noch, doch sie waren überfüllt mit Rotgardisten, die durchs Land jagten, um die Revolution voranzutreiben. Meine Eltern wussten nicht, ob es möglich sein würde, uns alle zusammen in einem Zug unterzubringen. Als sie eines Nachmittags zum Bahnhof gingen, sahen sie, dass sich Tausende von Menschen vor den Schaltern drängten und lange Schlangen auf den Bahnsteigen bildeten.
Jeder Zug, der in den Bahnhof einfuhr, wurde von einer wütenden Menge gestürmt. Die Waggons waren so überfüllt, dass viele Fahrgäste mit dem Oberkörper aus den Fenstern hingen. Andere kletterten auf die Wagendächer.
Als Papa und Mama an diesem Abend zurückkamen, waren sie den Tränen nahe. »Hefei zu verlassen ist gefährlicher als zu bleiben«, sagten sie. An Flucht sei nicht zu denken.
Später erfuhren wir, dass die überfüllten Züge hinter Hefei durch einen engen Tunnel gefahren waren. Wer auf den Wagendächern saß, war vom Zug gefegt worden, und allen, die halb aus den Fenstern hingen, hatte es den Oberkörper oder den Kopf abgerissen.
Kapitel 22
Z u meinen Aufgaben gehörte es auch, Kleinholz zum Anzünden unseres Kohleherds zu sammeln. Seit kein Unterricht mehr stattfand, wanderte ich jeden Tag auf dem Universitätsgelände umher und suchte abgebrochene Zweige oder Holzstücke. Dabei verhielt ich mich möglichst unauffällig. Soldaten, Roten Garden und Schüler- und Studentengruppen ging ich aus dem Weg. Die meisten Bäume in der Stadt waren bereits gefällt und abtransportiert worden, um Brennholz daraus zu machen. Bei denen, die noch standen, hatte man die Rinde abgerissen und Äste abgebrochen. Alles, was aus Holz war und unbewacht im Freien stand, verschwand innerhalb weniger Stunden.
Eines Nachmittags bog ich hinter einem großen Gebäude in eine einsame Gasse ein. Hinter einem Zaun fiel mir ein
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