Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Schluss der Vorsitzende Mao in den höchsten Tönen gelobt werden. Immerhin gelang es mir, in meinen Briefen an Mama ein paar wenige Informationen unterzubringen. Doch meine Worte stimmten sie nur noch trauriger, und sie vermisste uns umso mehr. Da die Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen der Rotgardisten nach ein paar Monaten abgeflaut waren, fand auch wieder Unterricht statt, und Xiaolan und ich gingen nach dem Frühstück gemeinsam zur Schule. Zum Mittagessen kehrten wir ins Kinderbetreuungszentrum zurück. Und am Ende jeden Tages machten wir, auf unserem Bettzeug sitzend, unsere Hausaufgaben. Außerdem wusch ich die Kleider und die Bettwäsche meiner Brüder, flickte ihre Hemden und Hosen und stopfte Socken.
Schon die kleinen Kinder unterschieden genau zwischen roten und schwarzen Familien. Eines Nachmittags sah ich, wie Yicun sein Gesicht an die kalte Fensterscheibe presste, während die anderen Kinder spielten.
»Yicun«, rief ich ihm zu. »Komm, wir gehen raus.«
Ich packte ihn warm ein und brachte ihn zum Spielplatz. Yicun fuhr liebend gern Karussell – ein kleines, von Hand angetriebenes Rad, auf das Holztiere geschraubt waren. Ich half ihm auf ein Pferd, schubste das Rad an und lief neben ihm her, was ihn aus seiner düsteren Stimmung riss. Lachend rief er: »Schneller! Schneller!« Mir fiel ein, wie glücklich er immer gewesen war, wenn unsere Eltern am Wochenende mit ihm hierher gegangen waren.
Im Laufe der Wochen wurden unsere Essensportionen immer kleiner. An manchen Tagen fehlte das Gemüse, und manchmal gab es wochenlang kein Fleisch. Dann wieder wurden wir alle mehrere Tage mit Babykost verpflegt. Wir leckten unsere Schüsseln blitzblank. Mama schickte uns Essensmarken, und auf dem Weg vom Kinderbetreuungszentrum zur Schule hielt ich Ausschau nach einem Schwarzmarkt. Wenn ich etwas zu essen auftrieb, gab ich fast alles meinen Brüdern, so wie Großmama es einst bei mir getan hatte. Einmal schickte Mama uns eine Tüte Erdnüsse. Yiding übernahm die Verteilung. Jeder von uns bekam täglich eine Erdnuss, bis sie alle aufgegessen waren. Xiaolan und ich sprachen fast nur noch vom Essen. Wir schilderten einander die Mahlzeiten, die uns unsere Mütter einst vorgesetzt hatten. Wir träumten sogar vom Essen. Einmal wachte ich mitten in der Nacht auf, weil mich der Hunger quälte. Als ich sah, dass alle anderen schliefen, zog ich die Zahnpasta aus meiner Tasche, quetschte mir einen Strang in den Mund und kaute so lange wie möglich darauf herum, ehe ich sie schluckte.
Allabendlich ging ich zu Yicun ins Zimmer, deckte ihn zu, setzte mich auf seine Matte und erzählte ihm Gutenachtgeschichten. Am liebsten hörte er die von Papa, die ich aus meinem Versteck mitangehört hatte. Später versammelten wir Älteren uns in einem Raum und erzählten einander ebenfalls Geschichten. Xiaolan kannte wundervolle chinesische Volksmärchen. Ich versuchte ihnen die Geschichte des
Grafen von Monte Christo
zu erzählen, musste aber feststellen, dass ich vieles vergessen hatte. Wenn mich meine aufmerksamen Zuhörer verwirrt ansahen, flüchtete ich mich in Improvisationen. Was sich mir jedoch für alle Zeit eingeprägt hatte, war der Schluss: »Harren und Hoffen.« Ich flüsterte die Worte wie eine Zauberformel vor mich hin.
Yiding war unser bester Geschichtenerzähler. Wenn er seine farbigen Erzählungen vortrug, scharten sich alle um ihn. Einmal gab er eine Geschichte nach der anderen zum Besten, sodass wir bis zur Morgendämmerung aufblieben und zum Frühstück nicht wach zu kriegen waren. Die Erzieherinnen wollten wissen, warum wir so müde seien, und ein Junge gestand: »Weil uns Yiding die ganze Nacht Geschichten erzählt hat.« Die Betreuerinnen verboten meinem Bruder, künftig Geschichten zu erzählen. An den nächsten Abenden steckte Genossin Pan immer wieder den Kopf zur Tür herein, um zu kontrollieren, ob wir auch still waren.
Es wurde kälter. Zudem war unsere Kleidung inzwischen fadenscheinig geworden, ständig musste ich aufgegangene Nähte ausbessern, Säume auslassen und Flicken aufsetzen. Also gingen Yiding und ich zu unserer Wohnung, um wärmere Kleider zu holen. Das Haus war verödet. Die Glasscheibe in unserer Wohnungstür war zerbrochen, ansonsten schien alles noch so, wie Mama und Papa es zurückgelassen hatten. Wir zogen die restlichen Scherben aus dem Rahmen und nagelten ein Brett vor die Öffnung. Mit Winterkleidung beladen, kehrten wir ins Betreuungszentrum zurück. Zum Schutz vor der
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