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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Wachleute.
    »Sogar ihre Unterwäsche«, ergänzte der zweite und stieß den anderen in die Rippen.
    »Was für ein Prachtweib«, meinte der erste leise, und beide Männer glucksten.
    Ich sah, wie die tanzenden Schneeflocken sachte einen züchtigen Schleier auf Tante Liangs Körper legten. Als ich mich umdrehte und weggehen wollte, riefen die Betreuerinnen, ich solle dableiben.
    Einer der Wachmänner fragte mich, wie ich die Leiche entdeckt hätte und ob ich hier jemanden hätte herumschleichen sehen.
    Eine der Betreuerinnen warf ungefragt ein, Tante Liang sei eine Konterrevolutionärin gewesen.
    Die andere ergänzte, sie habe gehört, dass Tante Liang mehrere Liebhaber gehabt habe. Ja, das habe er auch gehört, brummte einer der Wachmänner. »Ist nicht schade um die«, meinte der andere, und alle nickten, bis auf Onkel Liu, der mich bedrückt ansah und dann wegschaute, als schäme er sich.
    Eine plötzliche Böe erfasste Tante Liangs Schal und wehte ihn über den Schnee. Der Mann, der mich befragte, nahm ihn an sich. »Der gehörte ihr?«, wandte er sich an mich und hielt ihn mir unter die Nase. »Bist du ganz sicher?«
    Ich betrachtete ihn genauer. Zuvor war mir das dezente Muster nicht aufgefallen. In die rote Seide waren Hunderte kleiner roter Schmetterlinge in einem ganz ähnlichen Farbton eingestickt. Sie schimmerten, wenn man den Stoff ins Licht hielt.
    »Lass das Kind gehen«, meinte Onkel Liu. »Sie hat dir alles gesagt, was sie weiß.«
    »Gut, du kannst gehen«, sagte der Wachmann.
    Ich hastete ins Betreuungszentrum und setzte mich auf den Boden. Mir war übel. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich den Wäschekorb draußen stehen gelassen hatte, und ich holte ihn.
    Die Folgen dessen, was ich gerade gesehen hatte, wurden mir erst allmählich klar. Nicht nur, dass Tante Liang tot war. Sie hatte auch ein Verbrechen begangen, indem sie sich selbst das Leben genommen hatte.
    Wenig später wurde ihr Leichnam abgeholt. Niemand sagte, was damit geschehen würde. Aber ich wusste, dass die Leichen von Selbstmördern vor die Mauern der Stadt gebracht und dort den wilden Hunden zum Fraß vorgeworfen wurden.
    Xiaolan sah mich weinend im Flur sitzen und fragte, was los sei. Ich erzählte ihr, ich sei ins Eis eingebrochen. Sie half mir aus meinen nassen Sachen, und wir schlüpften zusammen unter unsere Decken, wo sie sich an mich schmiegte, um mich zu wärmen. Wie sollte ich ihr bloß erzählen, was geschehen war? Und sollte sie es lieber von mir oder von den Erzieherinnen erfahren? Ich entschied mich, erst einmal zu schweigen.
    Als ich an diesem Abend die Augen schloss, träumte ich von Tante Liangs Schal. Er hatte sich in den Zweigen des Baumes verfangen, an dem ich sie gefunden hatte, und wehte wie eine Flagge im Wind. Ich ging auf den Baum zu und sah hoch. Da trennte sich der Schal vor meinen Augen auf, und die eingestickten Schmetterlinge lösten sich aus der Seide und erhoben sich in die Lüfte. Die ersten schlugen schon mit ihren winzigen Flügeln und umkreisten den Baum, während die anderen sich noch aus dem Stoff arbeiteten und der Schal sich immer mehr auflöste. Am Ende flogen die Schmetterlinge in den Himmel hinauf, höher und höher, sie wurden immer kleiner und entschwanden schließlich im Weiß der Winterwelt. Ich blieb allein unter den kahlen Zweigen zurück. Schlagartig wurde ich wach, mit Tränen in den Augen. Xiaolan stützte sich auf den Ellbogen und sah mich an. Ich verbarg mein Gesicht in der Decke, damit sie meine Tränen nicht sah, doch Xiaolan legte mir die Hand auf die Schulter und schrie: »Mama, ich will zu Mama.« Man hatte es ihr gesagt.
    Dann drehte sie sich zur Seite. Ich umarmte sie fest und spürte, wie sie zitterte. Ihre Haut fühlte sich kalt an. Sie stöhnte und murmelte Worte, die ich nicht verstand.
    »Xiaolan«, flüsterte ich, »ich habe von deiner Mama geträumt. Lass dir den Traum erzählen, dann kannst auch du ihn träumen.«
    Sie beruhigte sich ein wenig.
    »Ich habe draußen Tante Liangs Schal gesehen, Xiaolan. Und weißt du was? Während ich ihn betrachtet habe, hat er sich in lauter kleine Schmetterlinge verwandelt, die in der Luft tanzten und über meinen Kopf flogen. Und dann sind sie alle zusammen fortgeflogen.«
    »Wo ist Mama?«, wimmerte Xiaolan.
    »Tante Liang war auch da, Xiaolan. Aber sie war es nicht mehr selbst, sondern der letzte, der allerschönste rote Schmetterling aus dem Schal. Als mir der Schmetterling vor dem Gesicht herumflatterte, hat er mit Tante Liangs

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