Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Eissplitter in Hose und Jacke piksten mich bei jeder Bewegung. Endlich kam ich auf die Beine. Ich schaffte es nicht, den vollen Wäschekorb hochzuheben, und musste ihn hinter mir her ziehen.
Inzwischen hatte es wieder zu schneien begonnen. Windböen bliesen mir weiße Flocken ins Gesicht, während ich mich dahinschleppte.
Nachdem ich ein kurzes Stück bewältigt hatte, sah ich plötzlich etwas ungewöhnlich Buntes. Ich kniff die Augen zusammen und spähte durch den weißen Schleier, konnte aber nicht erkennen, was es war. Schließlich ließ ich den Korb stehen und ging auf das seltsame farbige Gebilde zu. Dann konnte ich einen scharlachroten Streifen ausmachen. Als ich nur noch wenige Schritte entfernt war, sah ich, dass es das Ende eines Schals war, der an einem Ast hing. Das andere Ende war um den Hals eines nackten Körpers geknotet.
Verblüfft schaute ich zu dem Körper hoch, der über mir baumelte. Das Gesicht war geschwollen, die Haut des Rumpfs alabasterfarben, Kopf, Hände und Füße hatten sich schwarzblau verfärbt.
Die Gestalt kam mir auf unheimliche Art bekannt vor. Ich zwang mich, genauer hinzusehen. Es war Tante Liang. Der Finger an ihrer linken Hand, an dem der Jadering gesteckt hatte, war abgehackt worden, das Blut aus der Wunde bildete unter ihrer Leiche eine gefrorene schwarze Lache.
Ich stieß einen tiefen, qualvollen Schrei aus, schluchzte auf und rieb mir ganz fest die Augen, damit das Bild verschwand.
Den Blick auf Tante Liang gerichtet, taumelte ich rückwärts, dann drehte ich mich um und rannte los. Hysterisch kreischend stürzte ich ins Betreuungszentrum. Zwei Erzieherinnen eilten auf mich zu. »Was soll denn das Geschrei? Hast du einen Geist gesehen?«
Aus mir brach ein jämmerliches, angsterfülltes »Aaaah« heraus, und ich zeigte in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war. Eine Betreuerin nahm mein Gesicht in die Hände und fragte barsch: »Was ist los?« Als ich nur weiterheulte, schlug sie mir ins Gesicht.
Da fand ich meine Stimme wieder. »Hilfe«, schluchzte ich. »Sie hängt am Baum.« Ich riss mich los und rannte wieder zur Tür hinaus, gefolgt von den Betreuerinnen. Als Tante Liang in Sichtweite war, verlangsamte ich meinen Schritt und zeigte auf sie.
Die Betreuerinnen blieben abrupt stehen. Dann näherten sie sich vorsichtig, gingen um die Leiche herum und tuschelten miteinander. Ich hielt mich in einiger Entfernung und entdeckte Dutzende Fußabdrücke und mehrere aufeinandergeschichtete Ziegelsteine im Schnee.
»Sieh mal die Fußabdrücke«, sagte die eine Erzieherin. »Hier war noch jemand.«
»Nicht nur einer«, meinte die andere.
Die erste deutete auf die Ziegel. »Sie haben sich da draufgestellt, um ihr die Kleider wegzunehmen.«
»Ich hole Hilfe«, sagte die andere und stapfte davon.
Die Betreuerin fragte mich, ob ich jemanden in der Nähe des Leichnams bemerkt hätte.
»Nein. Nur Tante Liang.«
»Du kennst die Frau?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Sie ist Xiaolans Mutter.«
Nach einem neuerlichen Blick auf die Tote sah sich die Betreuerin auf dem Boden um und begutachtete die Fußspuren im Schnee. »Ich glaube, diese verdammten Scheiße-Diebe waren vor dir hier«, meinte sie. »Sie haben ihr die Kleider gestohlen.«
Die Scheiße-Diebe waren Bauern aus den Dörfern der Umgebung, die sich allnächtlich auf den Campus schlichen – ein Schattenheer, das lautlos durch die Dunkelheit geisterte. Sie stahlen die Jauche aus den Universitätstoiletten, um sie als Dünger zu verwenden oder zu verkaufen. Und sie nahmen auch sonst alles mit, was nicht niet- und nagelfest war.
Die eine Betreuerin kam zusammen mit Onkel Liu und zwei Wachleuten zurück. »Ist alles in Ordnung, Yimao?«, fragte Onkel Liu.
»Nein.«
Er trat zu den anderen unter den Leichnam, und sie entdeckten dunkle Stellen im Schnee, wo die Scheiße-Diebe ihre Körbe abgestellt hatten, um Tante Liang die Kleider vom Leib zu reißen und den Finger abzuhacken.
Onkel Liu kletterte den Baum hoch und schnitt mit einem kleinen Messer den Schal durch. Tante Liangs steifer Körper fiel in den Schnee. Ich schämte mich für sie, als die Betreuerinnen und die Männer so ungeniert ihren nackten Körper anstarrten. Mit ausgestreckten Armen und Beinen lag sie da auf dem Rücken, als wollte sie wieder einen Schmetterling machen. Der Schal war noch immer um ihren Hals geknotet. Onkel Liu band ihn los und bedeckte damit ihre Blöße.
»Sie haben einfach alles mitgenommen«, sagte einer der
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