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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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sangen wir: »All die Kader gehen aufs Land zur Umerziehung durch die Bauern, wie lehrreich wird das für die Kader sein!« Wir hatten keine Ahnung, was das bedeutete. Dennoch gaben wir es täglich auf der Straße zum Besten. Mir fiel auf, dass das nur wenige Passanten unterhaltsam fanden. Kaum einer blieb länger als einen Augenblick stehen, um zuzuhören.
    Kurz nachdem wir mit den Darbietungen des neuen Stücks begonnen hatten, erschien Xiaolans Vater im Kinderbetreuungszentrum. Man hatte ihm ein Dorf auf dem Land als Wohnsitz zugewiesen. In wenigen Tagen würden er und Xiaolan dorthin aufbrechen. Stumm packte meine Freundin ihre Sachen. »Auf Wiedersehen, Xiaolan«, sagte ich, als sie ging. Sie erwiderte nichts. Am nächsten Tag ließen uns unsere Erzieherinnen Aufstellung nehmen, um unsere Eltern – die jetzt »Landsiedler-Kader« genannt wurden – in ihrer Heimatstadt zu begrüßen. Als ich Mama vom Lastwagen steigen sah, ließ ich Yicuns Hand los, worauf er zu ihr rannte und sie sich in die Arme fielen. Seine ersten Worte waren: »Wo ist Papa?«
    »Er wird auch bald hier sein«, sagte sie. »Er hat große Sehnsucht nach dir.«
    Yiding und ich nahmen Mamas Taschen, dann gingen wir zusammen heim. Wir waren aufgeregt, ja richtig aufgekratzt. Mir fiel auf, dass Mama langsam ging und erschöpft wirkte.
    In unserer Wohnung erzählten wir Mama alles, was passiert war, stotternd und stammelnd, weil jeder seine Geschichten zuerst loswerden wollte. Beim Geschirrspülen berichtete ich Mama von Tante Liang und wie ich sie gefunden hatte. Schweigend hörte sie zu. Als ich geendet hatte, senkte sie den Kopf, schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Sie winkte mich zu sich und legte ihre Wange an meine. »Arme Liang«, schluchzte sie. »Arme Xiaolan.«
    Ich weinte mit ihr.

Kapitel 29
    A n diesem Abend verlor Mama kein Wort über die bevorstehende Trennung. Es war eine ungewöhnlich ruhige Nacht. Von dem üblichen Lärm war nichts zu hören: kein Stampfen von Marschierenden, keine hasserfüllten Sprechchöre. Morgens eröffnete uns Mama, was auf uns zukommen würde. »Ich muss fort«, meinte sie. »Yiding nehme ich mit. Yimao und Yicun, ihr bleibt im Kinderzentrum. Aber ich werde bald wieder bei euch sein.« Yicun ließ den Kopf hängen. Ich sah in die traurigen, müden Augen meiner Mutter und kämpfte mit den Tränen.
    Vergeblich versuchte sie uns aufzuheitern. Nach dem Frühstück begannen wir zu packen.
    Eine Frau erschien und teilte Mama mit, es finde eine Versammlung statt, auf der bekannt gegeben würde, wohin jeder geschickt wurde. Mama meinte, es sei ohnehin schon alles entschieden, und schickte mich an ihrer Stelle hin. Als die Namen und die Dörfer verlesen wurden, notierte ich mir die Angaben und lief nach Hause. »Mama, sie schicken dich ins Dorf Xiaohe im Bezirk Hexian«, berichtete ich. »Es heißt, das Dorf ist weit vom Kommunenhauptquartier entfernt. Du bekommst ein eigenes Zimmer, aber ohne Strom.«
    Mama war entsetzt. »Bist du sicher?«, fragte sie. Ich zeigte ihr meine Notizen, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Wie sollen wir denn dort leben?«
    Nun war es, als rede sie mit meinem Vater: »Ningkun, was ist mit den fünf Dingen, die sie uns versprochen haben? Sie haben gesagt, wir bekämen eine Wohnung, einen Herd, einen Wasserkrug, Nahrung und Lohn.« Dabei wurde sie zunehmend lauter, bis ihr die Stimme versagte. Einen Augenblick schwieg sie. Dann verließ sie die Wohnung, um andere Leute zu fragen, wohin sie verschickt wurden. Wie vermutet, war ihr Dorf das primitivste und abgelegenste.
    Sie ging zur Zentrale der Propaganda-Gruppe und bat, den Leiter sprechen zu dürfen. »Bitte gestatte mir, mein Dorf gegen ein anderes zu tauschen«, flehte sie ihn an. »Eines, das wenigstens Verkehrsanschluss hat. Ich habe drei kleine Kinder, um die ich mich kümmern muss.« Der Mann hörte zu, sagte aber nichts. Nachdem meine Mutter ihr Anliegen vorgebracht hatte, wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, als wäre sie gar nicht da. Mehrere Minuten blieb sie schweigend vor ihm stehen. Als ihr klar wurde, dass er sie keiner Antwort würdigen würde, kehrte sie nach Hause zurück.
    Am Nachmittag erschien ein Rotgardist bei uns und verkündete: »Li Yikai, wir haben entschieden, dass du deine Zuweisung mit einem anderen Lehrer tauschen darfst. Du wirst in die Kommune Sunbao im Bezirk Xipu geschickt, zur Gaozhuang-Produktionsgemeinschaft der Xinjian-Arbeitsbrigade. Dieses Dorf liegt nicht in den

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