Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
es ihr nach. Wir sahen aus wie die glücklichen Kinder in dem Bildband auf dem Bücherhaufen vor dem Rundfunkstudio. Endlich wusste ich, wie diese Kinder sich fühlten und warum sie so strahlten.
Im bernsteinfarbenen Lichtschein der Straßenlampen sah ich, wie wunderschön Tante Liang war. Ihre Haut schimmerte, ihr schwarzes Haar glänzte, und ihre Augen funkelten wie Silber. Einen Moment lang blieb ich ganz still liegen und sah ihr zu, wie sie herumrannte und Xiaolan und meine Brüder mit Schnee bewarf. Wie ein kleines Mädchen sauste sie zwischen uns hin und her, umarmte uns und wirbelte uns herum, bis sie das Gleichgewicht verlor, dann nahm sie uns wieder in die Arme. Und als sie Xiaolan hoch in die Luft hob, sie küsste und herumwirbelte, kreischte meine Freundin vor Vergnügen, und wir alle brachen in frohes Gelächter aus.
Als ich Tante Liang und Xiaolan herumalbern sah, stieg Neid in mir auf. Ich wollte auch mit meinen Eltern spielen und ihr Lachen hören. Ich sehnte mich danach, von meiner Mutter umarmt zu werden.
Inzwischen hatten wir jegliches Zeitgefühl verloren. Irgendwann zog uns Tante Liang alle wieder auf die Beine und klopfte uns den Schnee ab. Wir nahmen uns bei den Händen und machten uns tanzend und hüpfend auf den Weg zum Betreuungszentrum.
Eine Betreuerin und einige Kinder waren bereits zurückgekehrt. Wir brachten Yicun zu Bett, dann sagte Yiding Gute Nacht und ging in sein Zimmer. Tante Liang begleitete mich und Xiaolan in unser Zimmer, und wir krabbelten nebeneinander unter unsere Decken. Tante Liang zog sie uns bis zu den Nasenspitzen hoch und küsste mich auf die Backe. Ich zog sie an mich und schluckte die Tränen hinunter. Nun ging sie auf die andere Seite, nahm Xiaolan in die Arme, küsste sie und löste sich langsam von ihrer Tochter. Sie schluchzte kurz auf und blieb noch einen Augenblick stehen. Dann löschte sie das Licht und entfernte sich. Ich sah ihre Silhouette und das Glitzern in ihren Augen. Ihre Schritte verhallten im Flur. Die Haustür öffnete sich und fiel ins Schloss. Tante Liang war fort.
Weinend schlang Xiaolan die Arme um mich.
Am nächsten Morgen weckte mich Genossin Pan, indem sie mich mit dem Fuß stupste. Schroff sagte sie: »Wach auf, Wu Yimao! Dein kleiner Bruder hat ins Bett geschissen. Du hast ihm gestern Abend zu essen gegeben, also machst du die Schweinerei auch weg!«
Ich rieb mir die Augen und setzte mich auf.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Xiaolan.
»Nein«, meinte ich. »Schlaf weiter.«
Ich ging zu Yicun ins Zimmer, der auf einem Hocker neben seiner Matte saß und heulte. Seine dreckige Unterwäsche, seine Hose und sein Laken lagen auf einem Haufen am Boden. Ich tröstete ihn und ging mit ihm in den Waschraum, um ihn sauber zu machen. Doch das Wasserrohr war eingefroren, ein langer Eiszapfen hing aus dem Hahn. Ich kehrte in Yicuns Zimmer zurück, goss heißes Wasser aus der Thermoskanne in eine Tasse und trug sie zum Waschraum, wo ich ein Handtuch befeuchtete und Yicun abwusch.
Genossin Pan beobachtete mich. »Die Leitung ist eingefroren«, erklärte ich. »Ich kann heute nichts waschen.«
»Geh zum Teich«, bellte sie.
Ich lieh mir einen großen Bambuskorb und ein hölzernes Wäschepaddel von Onkel Liu und legte die Schmutzwäsche in den Korb. Der Schneefall hatte aufgehört. Ich trottete den gewundenen Pfad zum Teich hinunter. Außer mir war niemand draußen.
Der Teich war zugefroren. Ich hob das Paddel hoch über den Kopf und hieb damit auf das Eis, das mit einem lauten Krachen barst. Das Wasser blubberte nach oben. Dann schob ich die Eisscherben beiseite und machte ein Loch, das groß genug war, um darin Wäsche zu waschen. Doch als ich das verdreckte Laken aus dem Korb zog, glitt ich auf dem frischen Schnee aus und fiel rücklings in das Loch. Das eisige Wasser war wie Hunderte winziger Zähne, die mich in Arme und Hände bissen. Vor Schreck schnappte ich nach Luft, streckte die Arme aus und krabbelte mühsam das Ufer hoch. Meine Kleider waren klitschnass. Hastig machte ich mich an die Arbeit. Während ich die Wäsche mit dem Paddel bearbeitete, klapperten meine Zähne. Und jedes Mal, wenn ich die Kleider und die Decke ins Wasser tunkte, bissen mich seine winzigen Zähne. Ich wrang Decke und Laken aus, warf beides in den Korb und wusch eiligst Unterwäsche und Hose.
Als ich fertig war, konnte ich nur mit Mühe aufstehen, denn meine Kleider waren gefroren. Eiszapfen hingen mir von den Haaren und der Ärmeljacke, und kleine scharfe
Weitere Kostenlose Bücher