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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Bergen, sondern im Flachland. Es ist nur rund fünfzehn Kilometer vom Hauptquartier des Bezirks Hexian entfernt und befindet sich in der Nähe einer Hauptstraße. Du erhältst eineinhalb Zimmer, Strom ist ebenfalls vorhanden.«
    Mama strahlte. »Danke«, sagte sie.
    Je näher der Abreisetermin rückte, desto unruhiger wurde sie. Wir alle halfen beim Packen. Ich schichtete Kohlebriketts in Kisten, als Brennstoff für den Herd. Mama packte Küchenutensilien, Geschirr und andere Gerätschaften zusammen mit Kleidern in Taschen. Auch die Betten bauten wir auseinander und schnürten das Bettzeug zusammen.
    Zwei Tage vor dem Umzug wurde ich krank. Mama steckte mich ins Bett und maß Fieber. Gegen zehn Uhr abends verschlechterte sich mein Zustand, und sie beschloss, mich ins Krankenhaus zu tragen. Keuchend stapfte sie mit kurzen, schnellen Schritten mitten auf der verlassenen Straße dahin. Sie drückte mich so fest an sich, dass ich ihren Herzschlag spüren konnte. Immer wieder rief sie mich beim Namen, um mich wach zu halten. »Maomao«, flüsterte sie, »alles in Ordnung?« Und ich erwiderte: »Ja, Mama.« Nach einer Weile konnte ich nicht mehr sprechen.
    Die Tür des Krankenhauses war verschlossen. Mama klopfte, doch drinnen rührte sich nichts. Schließlich hämmerte sie verzweifelt gegen die Tür und schrie: »Hilfe! Mein Kind ist krank.«
    Ich verlor immer wieder das Bewusstsein. Mamas Stimme entfernte sich, kam dann wieder näher. Ihr Flehen drang wie aus weiter Ferne zu mir. Ich war schweißgebadet und zitterte in der kalten Nachtluft.
    Da ging ein Licht an. Das Schloss klickte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Vor uns stand eine kleine, stämmige Frau im Nachthemd und runzelte die Stirn. »Bist du verrückt?«, zischte sie. »Was ist denn mit dir los?«
    »Mein kleines Mädchen ist schwer krank«, antwortete Mama.
    Die Frau spähte an der Tür vorbei zu mir. »Und was soll ich da deiner Meinung nach tun?«
    »Hol einen Arzt.«
    »Ausgeschlossen!«, entgegnete die Frau. »Um diese Zeit hat hier kein Arzt mehr Dienst.«
    Gerade wollte sie die Tür wieder schließen, doch Mama stellte ihren Fuß dazwischen. »Wer hat tagsüber Dienst?«, fragte Mama.
    »Die Ärztin Dr. Tang.«
    »Wo wohnt sie? Ich bringe meine Tochter zu ihr.«
    Verblüfft starrte die Frau sie an.
    »Bitte«, rief Mama. »Wo wohnt sie?«
    Nach kurzem Zögern gab die Frau schließlich Auskunft: »Gebäude einhundertsiebenundzwanzig, Nummer neun, zweiter Stock. Aber von mir hast du das nicht erfahren.«
    »Danke«, sagte Mama.
    Die Tür wurde zugeschlagen und abgesperrt, das Licht verlosch. Und Mama hastete mit mir weiter.
    Ich hörte nichts außer ihrem schweren Atem. Plötzlich sprang uns aus der Finsternis ein Hund entgegen. Er knurrte und schnappte nach Mamas Füßen. Sie lief im Zickzack die Straße entlang, während der Hund sie mehrmals ansprang. Nachdem er sie ein paarmal in die Fersen gezwickt und Mama zurückgetreten hatte, rannte er im Kreis um uns herum. In der Ferne hörte ich nun andere Hunde bellen. Waren es die verwilderten Tiere, die sich allnächtlich in die Stadt schlichen und Müll und die Leichen von Konterrevolutionären fraßen?
    Ich erstarrte. Das Knurren des Hundes klang jetzt aggressiver. Schließlich verlangsamte Mama ihren Schritt und blieb stehen. Das Tier rannte von einer Seite zur anderen, kam in geduckter Haltung und mit funkelnden Augen näher. Mit aller noch verbliebenen Kraft schlang ich die Arme um Mamas Hals und versuchte mich hochzuziehen. Da hielt der Hund inne, hörte zu bellen auf, schlich argwöhnisch zu Mama und beschnüffelte ihre Füße und Beine. Dann hob er den Kopf und schnupperte an dem Bündel, das sie trug. Als er damit fertig war, setzte er sich und schaute uns an. Behutsam setzte Mama ihren Marsch fort. Sie wagte nicht zu laufen, um das Tier nicht zu reizen. Doch der Hund benahm sich, als spürte er die Dringlichkeit von Mamas Handlungen. Anstatt sie weiter zu bedrängen, wurde er ihr Begleiter durch die Straßen.
    Mama gelangte zum Gebäude 127 und trug mich in den zweiten Stock hinauf. Nur mit Mühe konnte sie die Nummern an den Türen entziffern. Als sie endlich die Nummer neun fand, trat sie leise gegen die Tür. Keine Reaktion. Da schrie sie, mit jedem Wort verzweifelter und klagender: »Dr. Tang! Ist Dr. Tang zu Hause? Das ist ein Notfall. Bitte hilf mir.«
    Drinnen wurde Licht gemacht. Zuerst hörte man das Schlurfen von Pantoffeln auf dem Fußboden, dann eine barsche, unfreundliche

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