Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Stimme zu mir gesprochen.«
Xiaolan drehte sich zu mir um, und ihre Augen glänzten. »Was hat sie gesagt?«
»Sie bat mich, dir zu sagen, dass sie jetzt ein Schmetterling ist. Wir sollen im Frühling nach ihr Ausschau halten. Und ich soll dir sagen, dass sie uns oft besuchen wird.«
Xiaolan dachte über meine Worte nach.
»Ist das alles?«, fragte sie nach einer Weile. »Hat sie noch etwas gesagt?«
Ich weiß nicht, wer mir die nächsten Worte eingab. Es war, als wäre Tante Liang in meinem Herzen und als kämen ihre Worte aus meinem Mund.
»Doch«, antwortete ich. »Sie meinte, ich soll dir sagen, dass sie auf dich aufpassen wird. Dann sagte sie, du sollst harren und hoffen.«
Kapitel 28
K urz nach den Ferien rief der Leiter der Propaganda-Gruppe Mama zu sich.
»Wir haben beschlossen, deinen Mann in die Nähe seines Geburtsortes Yangzhou in der Provinz Jiangsu zu schicken«, sagte er.
Mama nickte. Sie ließ sich ihre Erschütterung nicht anmerken und starrte nur auf die gefrorene Erde.
»Aber die Frage ist, wohin genau sollen wir ihn schicken? Es ist schwer, Kriminelle irgendwo unterzubringen. Niemand will sie haben.«
Mama wartete bis zum nächsten Morgen, ehe sie Papa die schreckliche Nachricht überbrachte. Zu ihrer Überraschung wusste er bereits Bescheid. Er hatte es vor ihr geheim gehalten, um sie nicht zu beunruhigen.
»Wir haben keine Wahl«, meinte er. »Warten wir erst einmal ab, wohin sie mich schicken, bevor wir uns weiter den Kopf zerbrechen.«
Mama fragte sich, wie er überleben sollte, wenn er ganz auf sich allein gestellt war. Als man ihn 1958 ins Straflager geschickt hatte, war er erst achtunddreißig gewesen. Jetzt aber ging er auf die fünfzig zu. Würde er das psychisch und körperlich noch einmal durchstehen?
Anfang Mai berief der Leiter der Propaganda-Gruppe eine Versammlung mit denjenigen ein, die man von der Anhui-Universität hierher verschickt hatte. Er erklärte, die Propaganda-Gruppe erteile ausgewählten Personen »die Erlaubnis, sich freiwillig auf dem Land anzusiedeln«. Diese Freiwilligen sollten gemäß der Direktive des Vorsitzenden Mao auf Dauer in den bäuerlichen Gemeinden sesshaft werden. Ihre Aufenthaltsgenehmigungen würden entsprechend geändert, die Lebensmittel- und Ölrationen übertragen werden. Ihre Schützlinge dürften mit ihnen umziehen, allerdings büßten alle ihren Anspruch auf eine kostenlose Gesundheitsversorgung ein.
Zweck dieses Programms sei es, bourgeoisen Intellektuellen und ihren Familien eine lebenslange Umerziehung unter Bauern angedeihen zu lassen. Dann verlas der Mann die Liste der Namen. Diesmal stand meine Mutter ganz oben.
»Übermorgen werdet ihr per Lastwagen nach Hefei zurückgebracht«, erklärte der Leiter der Propaganda-Gruppe. »Ihr habt eine Woche Zeit, euch auf den Aufbruch in eure neue Heimat vorzubereiten.«
Das ist das Ende, dachte meine Mutter.
Sie fragte den Leiter: »Was ist mit meinem Mann?«
»Als Kuh-Dämon steht er weiterhin unter unserer Kontrolle«, sagte dieser. »Aber wir könnten in Betracht ziehen, ihn in das Dorf zu schicken, wo du leben wirst. Die Partei hat ein Herz für Familien.«
Am nächsten Morgen erhielt Mama die Erlaubnis, Papa zu besuchen. Sie besprachen die Probleme, die der Umzug mit sich brachte. Da Mama bezweifelte, dass ihre kleineren Kinder auf dem Land überleben konnten, entschieden beide, dass sie nur meinen älteren Bruder mitnehmen würde. Mein jüngerer Bruder und ich sollten im Kinderbetreuungszentrum bleiben.
Für April war in Peking eine Tagung des Politbüros der Kommunistischen Partei anberaumt. Schulkinder im ganzen Land brachten viele Unterrichtsstunden damit zu, sich auf dieses festliche Ereignis vorzubereiten. Man lehrte uns ein neues Lied, zu dem wir tanzten und papierne Sonnenblumen über unseren Köpfen schwenkten:
Der Fluss Yangtze fließt gen Osten,
Alle Sonnenblumen recken sich der Sonne entgegen,
Voller Vorfreude erwarten wir den Neunten Parteitag,
Und wir singen und preisen
Unsere große, glorreiche, unfehlbare Partei.
Das übten wir Tag für Tag. Ich tanzte neben Xiaolan und beobachtete sie. Manchmal bewegte sie bloß die Lippen zu den Worten und machte die Tanzschritte nur lustlos mit, ganz ohne ihre frühere Energie und Anmut. Schließlich erklärte unsere Lehrerin, das Lied sei aufführungsreif. Wir gingen auf die Straße und tanzten vor Passanten. Nach dem Lied zum Neunten Parteitag studierten wir ein weiteres mit anderen Tanzschritten ein. Jetzt
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