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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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dreibeinigen, etwa dreißig Zentimeter hohen Hocker, aber kein Pult. Erst vor Kurzem war die Grundschule von sechs auf fünf Klassen verkürzt worden. Der Vorsitzende Mao hatte angeordnet, das System zu revolutionieren und dafür zu sorgen, dass die Kinder weniger Zeit im Klassenzimmer verbrachten. Die ersten drei Klassen wurden in dem einen Zimmer unterrichtet, die vierte und die fünfte in dem anderen. Damals war ich in der vierten Klasse.
    Auf dem Land gingen die Mädchen, wenn überhaupt, nur bis zur dritten Klasse zur Schule. Danach arbeiteten sie auf dem Feld. Unter den Bauern wurden Mädchen als »Mitbringsel« bezeichnet, weil sie irgendwann bei den Familien ihrer Ehemänner wohnen würden. Folglich galt Bildung für sie als Verschwendung. Ich war in meiner Klasse das einzige Mädchen. Und auch im anderen Klassenzimmer saß gerade einmal ein halbes Dutzend.
    Da ich das älteste Mädchen in der Schule war, gehörte es zu meinen Pflichten, für den Lehrer zu kochen. In der Mitte unseres Klassenzimmers stand ein großer Lehmofen, und während der Lehrer unterrichtete, saß ich auf meinem Hocker und passte aufs Essen auf.
    Auch der Lehrer hatte nur die Grundschule besucht. Doch im Gegensatz zu den anderen Dorfbewohnern konnte er lesen und schreiben. Früher war er als Hausierer mit einer kleinen Trommel von Dorf zu Dorf gezogen und hatte Spielzeug und Süßigkeiten verkauft. Als dann ein Lehrer für das Dorf gebraucht wurde, baten ihn die Bewohner zu bleiben. Er hatte einen Sohn, der in meine Klasse ging. Sie waren für uns etwas Besonderes, weil sie zu der in Westchina lebenden uigurischen Minderheit gehörten und Muslime waren. Zwar beteten sie nicht mehr öffentlich – das war seit der kommunistischen Machtübernahme verboten –, aber sie mieden Schweinefleisch, und zu einer bestimmten Zeit des Jahres aßen sie tagsüber gar nichts. Wenn der Lehrer mit seinem Sohn sprach, verstand keiner von uns ein Wort.
    Manche Kleidungsstücke des Lehrers waren ungewöhnlich farbenfroh, ebenso der kleine Teppich, der in seinem Wohnraum auf der blanken Erde lag. Aber am auffälligsten war vielleicht seine Angewohnheit, tagtäglich Schuhe zu tragen. Bei den Bauern und ihren Kindern wurden Schuhe nur im tiefsten Winter oder zu besonderen Gelegenheiten wie bei Hochzeiten getragen. Aber den Lehrer sah man nie barfuß. Außerdem mischten weder er noch sein Sohn sich außerhalb der Unterrichtszeit unter die Dorfbewohner. Nicht einmal beim Säen oder Ernten schlossen sie sich den Feldarbeitern an. Sie blieben für sich, und niemanden im Dorf schien das zu stören.
    In Gao gab es seltsamerweise kein anderes Mädchen in meinem Alter. Viele Mädchen waren drei oder vier Jahre älter als ich, einige zwei oder drei Jahre jünger. Doch in meinem Jahrgang, 1958 , war ich die Einzige. Als die anderen Kinder eines Mittags draußen spielten, der Lehrer an seinem Pult rauchte und ich ihm sein Essen brachte, fragte ich ihn: »Lehrer Lu, warum bin ich das einzige Mädchen in dieser Klasse? Wo sind die anderen Mädchen in meinem Alter? Auch auf den Feldern gibt es keine.«
    Nachdenklich erwiderte er: »Früher gab es hier viele kleine Mädchen in deinem Alter. Ich habe sie gesehen, wenn ich über die Dörfer gezogen bin.« Wehmütig blickte er durchs Fenster zum Himmel hinauf.
    »Wo sind sie jetzt, Lehrer Lu?«
    »Sie sind alle tot.«
    »Sind sie krank geworden?«
    »Nein«, sagte er. »Das war es nicht.« Er vermied es, mich anzusehen. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, seufzte er: »Du bist zu jung, um es zu verstehen, Yimao.«
    Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und atmete den Rauch erst nach einer Weile langsam wieder aus. Gedankenvoll betrachtete er die blaue Spirale, die in die Luft schwebte, als versuche er etwas darin zu lesen. »Sie sind gestorben, weil es nichts zu essen gab«, flüsterte er. »Damals gab es in all den Dörfern hier nichts zu essen. Es herrschte eine Hungersnot. Du weißt nicht, was das heißt, oder?«
    »Doch, Lehrer Lu. Meine Großmama in Tianjin hat sich damals zu Tode gehungert, um mich zu retten.« Am liebsten hätte ich losgeheult.
    »Wir sollten vielleicht lieber nicht darüber sprechen«, meinte er voller Mitgefühl.
    Ich schluckte die Tränen hinunter und fragte weiter: »Was ist hier passiert?«
    »Meine Frau … sie hat dasselbe getan«, sagte er. »Ihr ganzes Essen hat sie für unsere Kinder aufgespart. Sie ist als Erste gestorben.« Seine Stimme brach,

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