Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Sache in die Hand und wies einen der Männer an, mich zu unserer Hütte zu tragen. Die Frau hatte ein wettergegerbtes, runzliges Gesicht und ging so gebeugt, dass sie noch kleiner wirkte, obwohl sie ohnehin die schmächtigste Bewohnerin des Dorfes war. Trotzdem verfügte sie offenbar über große Autorität, denn keiner stellte ihre Anweisungen infrage.
Mama war entsetzt, als sie mich sah. »Was ist passiert?«, fragte sie.
Die alte Frau meinte schroff: »Steh nicht dumm rum. Bring schnell Reiswasser.«
»Reiswasser?«, fragte Mama. »Was ist das?«
»Ihr Stadtleute wisst gar nichts!«, gab die alte Frau unwirsch zurück. »Tu Reis in Wasser und rühr es mit den Fingern so lange um, bis das Wasser Farbe bekommt.«
Gehorsam warf Mama eine Handvoll Reis in eine Schüssel, goss Wasser dazu und rührte darin. Dann reichte sie die Schüssel der Frau, die ihre Hände hineintunkte und meine Wunde mit dem Wasser auswusch. Anschließend spritzte mir die Frau das restliche Reiswasser auf den Kopf.
Gleich darauf verdrehte sie die Augen, warf den Kopf in den Nacken und stieß mit gellender Stimme einen unheimlichen Singsang hervor: »Kind, komm heim, Kind, komm heim, Kind, komm heim.« Die Frauen, die ihr zu unserer Hütte gefolgt waren, stimmten ein, und ihr leiernder Gesang schwoll mit jeder Wiederholung an. Mit geschlossenen Augen hoben sie die Hände über den Kopf und bewegten die Arme hin und her, sodass es aussah, als wiegten sich lange Grashalme im Wind.
Mama stand verwirrt daneben und starrte abwechselnd auf die Frauen und auf mich. Ich schwieg, wie hypnotisiert von diesem Treiben. Einen Augenblick lang vergaß ich den Schmerz und die Angst. Das ganze Dorf fiel in den Singsang ein. Nach und nach traten alle Bewohner vor ihre Hütten, reckten die Hände gen Himmel und sangen mit. Auch die Bauern eilten von den nahen Feldern herbei, als sie den Gesang hörten, und stimmten noch im Laufen darin ein.
Nach einer Weile hielt die alte Frau inne, und auch alle anderen verstummten. Sie horchte, als ob sie auf ein Zeichen wartete. Dann wandte sie sich an meine Mutter: »Als der Hund das Mädchen gebissen hat, ist ihre Seele vor Schreck aus dem Körper gewichen. Wir rufen sie wieder heim. Wenn wir das nicht täten, würde ihre Seele weit fort wandern, und das Mädchen hätte sie für immer verloren.«
Auf ein Zeichen hin nahm eine der Frauen unseren Besen, und eine junge Frau hob mich auf ihren Rücken. Eine dritte füllte eine kleine Schale mit trockenen Reiskörnern. Dann verließen alle unsere Hütte und marschierten singend in einer langen Reihe durchs Dorf. Die Frau mit der Reisschale führte die Prozession an, unmittelbar gefolgt von der Frau, die mich auf dem Rücken trug. Hinter ihr gingen die übrigen Frauen, darunter meine Mutter. Die Kinder bildeten den Schluss und sangen nun auch mit. So ging es den Weg durchs Dorf und wieder zurück. Die Frau mit dem Besen schwenkte diesen in weitem Bogen durch die Luft, »um Unglück wegzufegen«.
Schwungvoll warf die Frau an der Spitze die Reiskörner auf den Boden, als würde sie Saat ausbringen. »Kind, komm lebend heim, Kind, komm lebend heim«, wiederholte sie dabei ein ums andere Mal. Kaum lag der Reis auf dem Boden, rannten Hühner herbei und pickten ihn auf.
Schließlich erreichte die Prozession die Stelle, wo mich der Hund gebissen hatte. Hier wurde ein neuer Singsang angestimmt und wiederholt, bis die Frau, die das Ritual leitete, die Augen schloss, lauschte und sich dann entspannte. Nachdem sie die Unglücksstelle ein paarmal umrundet hatte, verkündete sie, dass meine Seele zurückgekehrt sei. Darauf zerstreute sich die Menge.
Mama trug mich heim. Als wir in der Hütte waren, erinnerte ich mich daran, was im Krankenhaus von Hefei geschehen war, nachdem sie mich gefunden hatte. »Mama, sind das Christen?«, fragte ich. »Haben sie mich getauft?«
Ich spürte, wie sie erstarrte. Dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse, um sich zu vergewissern, dass uns niemand zuhörte. »Nein«, sagte sie. »Ich erkläre es dir, wenn du groß bist. Bis dahin muss es ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben.«
Die nächste Grundschule war zu Fuß zwanzig Minuten von Gao entfernt. Sie bestand aus einem strohgedeckten Lehmhaus mit drei Räumen und Böden aus blanker Erde. In einem der Räume wohnte der Lehrer, in den beiden anderen wurde der Unterricht erteilt. Die Schüler mussten ihre Hocker und Pulte selbst mitbringen. Ich hatte einen grob gezimmerten
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