Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
einer anderen Ecke befand sich ein großer Wasserkrug aus Ton. Unsere Gepäckstücke wurden an der Wand gestapelt. Es gab weder Strom noch ein Fenster: Licht fiel lediglich durch die Tür herein.
»Wo soll ich schlafen?«, fragte ich Mama.
»Im Bett«, sagte sie und zeigte auf das Doppelbett. »Wir schlafen alle zusammen in dem Bett.«
Im Schuppen beobachteten die vielen Dorfbewohner, die sich hereingezwängt hatten, mit großen Augen jeden einzelnen Handgriff von uns und lauschten unseren Worten, als handele es sich um eine Theatervorstellung.
Nachdem ich mich kurz umgeschaut hatte, sagte ich zu Mama: »Ich muss auf die Toilette.«
»Ich bring dich hin«, sagte sie, riss zwei Seiten aus einem Notizbuch, das neben dem Ofen lag, und führte mich hinaus. Etwa ein Dutzend Schritte entfernt war eine große Vertiefung im Erdboden. Als wir näher kamen, merkte ich, dass es darin surrte und brummte, als säße etwas Lebendiges dort und gäbe einen dumpfen, gleichmäßigen Ton von sich, wie die angeschlagene Saite eines Instruments. Plötzlich hob sich eine schwarze Wolke empor, und ich erkannte, dass es sich um Millionen von Fliegen handelte, die sich an der Oberfläche dieses Abwasserloches labten. Wann immer man sich näherte, stoben sie auf, um sich, wenn man ging, gleich wieder auf dieser Brühe niederzulassen.
Um den Tümpel herum erhob sich eine etwa dreißig Zentimeter hohe Lehmmauer, die aber teilweise eingefallen war. Das Abwasserloch selbst hatte einen Durchmesser von knapp zwei Metern. Am Rand hatte man zwei Ziegelsteine in die Erde gerammt. Mehrere schräg gelegte Ziegel dazwischen bildeten eine Rinne, die in das schwarze Loch hineinführte. »Du stellst dich mit dem Rücken zum Loch auf die Steine, hockst dich hin und verrichtest dein Geschäft«, erklärte Mama. »Pass gut auf, dass du mit jedem Fuß fest auf einem der äußeren Steine stehst und in die Rinne triffst. Wenn du nämlich direkt ins Abwasser machst, spritzt es hoch und macht dich schmutzig. Und dann wirst du die Fliegen nicht mehr los.«
Mama half mir in die richtige Position. Ich war gerade dabei, mir die Hose aufzubinden und herunterzuziehen, als ich sah, dass uns ein Dutzend Kinder und Erwachsene zur Latrine gefolgt waren und mich fasziniert beobachteten. Mama bat das Publikum zu gehen, und als wir wieder allein waren, reichte sie mir die Notizblätter. »Wir bekommen hier kein Toilettenpapier zugeteilt«, sagte sie. »Also müssen wir uns damit behelfen. Du musst es mit der Hand zusammenknüllen, dann wieder glatt streichen und erneut zerknüllen. Mach das ein paar Mal, dann wird es weich und ist gut zu gebrauchen.«
Wieder im Schuppen, sagte ich zu Mama, dass ich mir die Hände waschen wolle. »Wasser ist im Krug«, sagte sie und zeigte auf den großen Tonbehälter in der Ecke. Ich hob den Holzdeckel hoch und steckte meine Hände hinein.
»Nein!«, rief Mama entsetzt, und sofort zog ich meine Hände zurück. »Das ist unser Trinkwasser«, erklärte sie. Doch zu spät. Sie zeigte mir die Kalebasse, mit der ich Wasser aus dem Krug schöpfen und in eine Schüssel gießen sollte, um mir darin die Hände zu waschen. Mit meiner Gedankenlosigkeit hatte ich gerade unseren gesamten Wasservorrat verschmutzt.
Kapitel 33
F rüh am nächsten Morgen sagte Yicun: »Komm mit, ich zeig dir einen Haushund.«
So etwas hatte ich noch nie gesehen. In der Stadt war die Haltung von Hunden nicht erlaubt. Dafür suchten in der Nacht wilde Hunde die Stadt rudelweise heim. Oft wurden sie von Funktionären gejagt, gefangen und erschlagen. Die Vorstellung von einem Hund als Haustier faszinierte mich. Das war mein erstes Abenteuer auf dem Land! Ich rannte mit Yicun den Weg zwischen den Dorfhütten entlang. Wie aus dem Nichts sprang plötzlich ein großer schwarzer Hund von hinten auf mich zu und biss mich in die rechte Wade. Schreiend fiel ich zu Boden. Der Hund ließ von mir ab und lief davon. Die Wunde blutete und tat schrecklich weh. Aus allen Richtungen strömten Dorfbewohner herbei, die meine Schreie gehört hatten. Eine alte Frau schwang ein großes Hackbeil über dem Kopf, verfluchte den Köter und untersuchte mein verletztes Bein. »Das sieht böse aus«, meinte sie.
Sogleich hatte sich eine Menge um mich versammelt. Jeder gab mir lautstark Ratschläge oder fragte, was passiert sei. Da ich den örtlichen Dialekt noch nicht kannte, verstand ich nur Bruchteile des hysterischen Geschreis, was meine Angst noch verstärkte. Rasch nahm die alte Frau die
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