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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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uneingeschränkte Macht über die Dorfbewohner. Auch wenn sich die Bauern manchmal über ihn lustig machten, hatten sie doch Angst vor ihm. Sie waren sehr um sein Wohlwollen bemüht und trieben es mit ihrem beißenden Spott nie zu weit. Wenn jemand seine Autorität in Frage stellte, hielt Alte Krabbe ihm warnend ein Exemplar der Parteibestimmungen unter die Nase. »Ich kann dich erschießen lassen!«, lautete seine übliche Drohung. Und alle wussten, dass er das wirklich konnte. Wenn er an unserem Haus vorbeikam und Essen roch, lud er sich ungefragt zu dem Mahl ein und nahm sich selbst immer die größte Portion.
    Mama hatte aus Hefei zwei Betten nach Gao mitgebracht, doch in der uns zugewiesenen Unterkunft war nur Platz für eines. Das andere bewahrte sie bei den landwirtschaftlichen Geräten in dem Lagerraum auf, der an unseren Wohnbereich im Schuppen angrenzte. Eines Nachmittags hörte ich jemanden unbeholfen im Lagerraum hantieren. Als ich über die niedrige Mauer schaute, die unseren Teil abgrenzte, erblickte ich Alte Krabbe. Er sah mich an und murmelte: »Mein Neffe heiratet demnächst und braucht ein Bett. Ich leihe mir eures aus.«
    Natürlich wussten alle, dass Alte Krabbe sich nie etwas
auslieh
. Er
nahm
sich einfach, was er wollte oder brauchte. Mir war klar, dass wir unser Bett nie zurückbekommen würden. Als er es aus dem Stapel mit unseren Habseligkeiten ziehen wollte, platzte ich heraus: »Das darfst du nicht!«
    »Halt die Klappe«, fuhr er mich erbost an. »Warum bist du eigentlich nicht Scheiße sammeln?«
    Als er sich mit dem Bett davonmachen wollte, kletterte ich über die Mauer und hielt es an einem Ende des Rahmens fest. »Das ist mein Bett«, schrie ich, »und das bekommst du nicht!«
    Er versuchte, es mir zu entreißen, aber ich klammerte mich daran fest und kreischte: »Wage es nicht, mein Bett zu stehlen.«
    Während er gleichzeitig zog und nach mir trat, bewegten wir uns in Richtung Tür und aus der Hütte hinaus. »Verdammt, lass los. Das gehört jetzt mir. Ich habe hier das Sagen«, brüllte er. Zwar war er es gewohnt, Erwachsene einzuschüchtern, doch vermutlich hatte sich ihm noch nie ein Kind widersetzt, schon gar nicht eine resolute Elfjährige.
    Er stemmte die Füße in den Boden, um mir mit einem letzten Ruck das Bettgestell zu entreißen. Da ließ ich los, sodass er rückwärts stolperte und der Länge nach hinfiel. Das Bett entglitt ihm, und er sprang mit geballten Fäusten auf, um mich zu schlagen. Ich rannte in die Hütte, schloss die Tür und versperrte sie. Er hämmerte dagegen und drohte, mich umzubringen. Nach einer Litanei von Beschimpfungen ließ er schließlich davon ab, schnappte sich das Bett und wankte davon. Da öffnete ich die Tür einen Spalt, reckte die Faust und rief: »Du wirst das Bett nicht behalten, Alte Krabbe! Ich werde es mir zurückholen!«
    Bei diesen Worten ließ er das Bettgestell los und rannte auf die Tür zu. Doch ich schlug sie zu und versperrte sie wieder. Nachdem er zweimal dagegengeschlagen und Drohungen ausgestoßen hatte, machte er sich mit seiner Diebesbeute davon.
     
    Alte Krabbe beteiligte sich nicht an der gemeinschaftlichen Arbeit. Er erklärte, es sei seine Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass alle anderen arbeiteten. Jeden Morgen marschierte er kurz nach Sonnenaufgang durchs Dorf, blies in eine Trillerpfeife, schlug auf seinen löchrigen Gong und rief: »Die Sonne scheint euch schon ins Arschloch! Aufstehen! An die Arbeit! An die Arbeit!« Wenn die Dorfbewohner dann aus ihren Behausungen kamen, teilte er ihnen mit, sie hätten heute zu diesem oder jenem Feld zu gehen und dies und das zu tun.
    Sobald die Dorfbewohner mit ihrem Tagewerk begonnen hatten, begab er sich zum Brigadehauptquartier oder zum Laden, um sich dort mit Parteifunktionären aus anderen Dörfern zu beraten. Nachdem er sich ein paar Gläser und ein paar Zigaretten genehmigt hatte, machte er seinen Rundgang über die Felder und vergewisserte sich, dass alle anderen arbeiteten. Anschließend kehrte er ins Dorf zurück und suchte nach Männern, die sich vor ihren Pflichten drückten, oder nach Frauen, die allein waren.
    An einem Herbstmorgen verschlief ich und brach erst spät zur Schule auf. Als ich an einer der kleinen Hütten am Rand des Dorfes vorbeikam, sah ich eine Gestalt, die an der rückwärtigen Wand herumschlich und dann hinter einer Ecke verschwand. Neugierig geworden, verließ ich den Hauptweg, schlich zu einem anderen Haus und spähte um die Ecke. Ich sah

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