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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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oft stehen, um zu rasten, und klagte über Kopfschmerzen. Manchmal versuchte ich es ihr leichter zu machen, indem ich ihr ihren kleinen Bruder abnahm. Kleiner Hase wirkte eher wie eine alte Frau als wie ein Kind. Deshalb gab ich mir alle Mühe, sie aufzuheitern. Ich erinnerte mich, wie ich krank geworden war und mich all meine Kräfte verlassen hatten. Doch irgendwann hatte man mich ins Krankenhaus gebracht. Jemand hatte sich um mich gekümmert und gewollt, dass ich weiterlebte. Doch Kleiner Hase schien so jemanden nicht zu haben. Ihren Eltern und ihrer Großmutter war sie gleichgültig. Sie ließ sich gern Geschichten von mir erzählen, wenn wir zusammen dasaßen und Strohbündel zum Verfeuern banden. Manchmal lehnte sie sich an mich und schmiegte den Kopf an meine Schulter.
    Als ich mit Mama über sie sprach, meinte sie, das Mädchen müsse in die Klinik des Kommunenhauptquartiers. Das schlug sie auch der Mutter von Kleiner Hase vor. Diese meinte, mit dem Kind sei alles in Ordnung, es sei immer schon still und teilnahmslos gewesen. Eines Morgens kam Kleiner Hase zu unserer Hütte und fragte, ob ich mit ihr zum Brigadeladen gehen wolle, denn sie müsse für ihre Großmutter Sojasoße kaufen. Ich musste ebenfalls hin, weil wir Salz brauchten. Also steckte ich ein paar Fen ein und zog mit ihr los. Doch schon nach wenigen Schritten blieb sie stehen und meinte, sie fühle sich nicht wohl. Sie schien mir auch ungewöhnlich blass. Zudem musste sie die Last ihres kleinen Bruders tragen, der ihr auf den Rücken gezurrt war. Ich fühlte ihre Stirn und sagte: »Dein Kopf ist heiß, Kleiner Hase. Geh heim. Ich besorge dir deine Sojasoße.« Darauf gab sie mir das Geld.
    Ich eilte zum Laden, kaufte die Lebensmittel und hatte danach noch einen Fen übrig. Im Laden gab es Bonbons aus Süßkartoffeln, das Stück zu einem Fen. Ich kaufte eines für Kleiner Hase. Den Heimweg legte ich größtenteils im Laufschritt zurück, während ich mir vorstellte, wie Kleiner Hase strahlen würde, wenn ich ihr diesen Leckerbissen überreichte. Als ich auf ihren Hof kam, sah ich sie im Stroh schlafen, mit ihrem kleinen Bruder auf dem Rücken. Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen, in den Händen einen noch nicht fertig gebundenen Ballen Stroh.
    »Kleiner Hase«, rief ich ihr zu, »ich habe eine Überraschung für dich.«
    Sie rührte sich nicht. Offenbar schlief sie tief und fest. Ich setzte mich neben sie ins Stroh, wickelte das Bonbon aus und hielt es ihr hin. Da erst merkte ich, dass ihre Augen halb geöffnet waren. Als ich ihr Gesicht berührte, stellte ich fest, dass es kalt war.
    Ich schrie auf, rannte aus der Hütte hinaus und rief ihre Großmutter. Diese eilte herbei, und als sie Kleiner Hase erblickte, nahm sie sie auf den Arm, redete auf sie ein und strich ihr über die Stirn. Das Baby auf dem Rücken des Mädchens begann zu weinen. Ich löste seine Stofftrage und wiegte es. Schlaff wie eine Stoffpuppe lag Kleiner Hase in den Armen ihrer Großmutter. Die alte Frau begann zu wehklagen. Andere Frauen hörten sie und rannten herbei. Als sie das leblose Mädchen sahen, fingen auch sie an zu heulen und zu schreien. Ich starrte fassungslos auf meine Freundin. In der Hand hielt ich immer noch das Bonbon, das ich ihr gekauft hatte.
    Am selben Abend hoben mehrere Männer ein Grab außerhalb des Dorfes aus. Sie wickelten das kleine Mädchen in eine Decke, legten es ins Grab und bedeckten den Leichnam mit Erde. Ein Grabmal oder eine Totenfeier gab es nicht.
    In den nächsten Wochen ging ich täglich zu ihrem Grab. Einmal sah ich, dass Tiere an der Oberfläche gescharrt hatten. Ich häufte noch mehr Erde aufs Grab und stampfte sie fest. Als ich damit fertig war, setzte ich mich hin und sprach zu Kleiner Hase.

Kapitel 35
    D ie fünfundzwanzig Familien des Dorfes Gao bildeten eine sogenannte Produktionsgemeinschaft, die zusammen mit den Produktionsgemeinschaften mehrerer anderer Dörfer eine Brigade bildeten. Diese Brigaden waren zu Kommunen zusammengeschlossen. Im Kommunenhauptquartier gab es einen Gemischtwarenladen, eine Mittelschule, eine Klinik und ein Versammlungshaus für Parteifunktionäre. Es war zu Fuß eine halbe Stunde von Gao entfernt.
    Alte Krabbe, der Leiter unserer Produktionsgemeinschaft, gehörte als Einziger im Dorf der Kommunistischen Partei an. Er trug eine zerlumpte grüne Uniform, die stets mit Schlammspritzern und Essensresten verkrustet war. Als Parteimitglied und Leiter der Produktionsgemeinschaft besaß er

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