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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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und er musste einen Moment innehalten. »Nachdem sie von uns gegangen war, gab es immer noch nicht genug zu essen. Meine Tochter war fünf. Mein Sohn war zwei. Du erinnerst mich sehr an meine Tochter.«
    »Was ist mit ihr passiert?«
    »Meine Tochter«, sagte er leise, »sie hieß Xiaobao – Kleiner Schatz. Ich habe meinen Kleinen Schatz nach Nanjing gebracht. Ich konnte einfach nicht mehr mit ansehen, wie sie hungerte. Also habe ich ihr erzählt, dass in der Stadt eine große Überraschung auf sie warten würde. Ich bin mit ihr in ein muslimisches Lokal in der Nähe des Trommelturms gegangen. Ich weiß sogar noch, wie es hieß – Ma Xiang Xing. Dort habe ich ihr eine Portion Soldatenfisch und eine Tasse Tee bestellt. Es kostete zwei Yuan und sechzig Fen, mehr Geld hatte ich nicht. Ihre Augen leuchteten, als sie das Essen sah. Sie lächelte zum ersten Mal seit Monaten und fing an zu essen. Ich habe ihr ein paar Minuten zugesehen. Dann sagte ich: ›Papa muss auf die Toilette. Warte hier, rühr dich nicht vom Fleck.‹
    Sie hat genickt und weitergefuttert, ohne auch nur den Blick zu heben. Ich bin zur Tür des Restaurants gegangen, habe mich noch einmal umgedreht und ihr beim Essen zugeschaut. Dann bin ich hinausgegangen. Ich habe sie nie wiedergesehen. So blieb sie mir in Erinnerung: ein kleines Mädchen, das allein an einem Tisch sitzt und begeistert isst. Sie war glücklich.« Mit feuchten Augen sah Lehrer Lu mich an. »Heute sieht sie vielleicht so aus wie du.«
    Er aß weiter, und ich saß ihm stumm gegenüber. Als er fertig war, starrte er in seine leere Schale, bis ich sie ihm aus den Händen nahm und zum Spülen hinaustrug.

Kapitel 34
    J eden Tag begann für die Kinder sofort nach der Schule die Arbeit. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, den Kot von Tieren als Dünger zu sammeln. Ich lernte, wie man das machte, und arbeitete bald mit den anderen zusammen. Es war meine erste richtige bezahlte Arbeit. Ich wollte so sein wie die anderen Kinder. Also streifte ich, mit einem kleinen Korb und einem Rechen ausgestattet, am Rand des Dorfes herum und suchte Dung. Für je zehn Kilogramm, die ich zum Abwasserbecken der Produktionsgemeinschaft brachte, schrieb mir der Buchhalter einen Arbeitspunkt gut, der einen Wert von zwei Fen hatte.
    Als ich zum ersten Mal zur Arbeit erschien, trug ich »Befreiungsturnschuhe«. Das sahen die anderen Kinder, deuteten auf mich und lachten mich aus. »Seht euch das Stadtmädchen an«, riefen sie, »sie sammelt mit Schuhen Scheiße.« Daraufhin ging ich heim und stellte die Schuhe in eine Ecke. Solange wir im Dorf lebten, ging ich die meiste Zeit barfuß. Anfangs war es schmerzhaft, aber schon nach einer kurzen Weile bildete sich Hornhaut an meinen Fußsohlen, sodass ich überall gehen konnte, ohne dass es wehtat. Ich konnte im Sommer sogar über heiße Steine laufen und über scharfkantige Felsen klettern.
    Bei meinen nachmittäglichen Streifzügen begleitete mich manchmal Kleiner Hase, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie war erst fünf, doch für ihr Alter sehr intelligent. Sie hatte einen Bruder im Babyalter, der ihr morgens auf den Rücken gebunden wurde. Mit ihm beladen, trottete sie neben mir her, während ich meine Arbeit verrichtete. Bald verbrachte ich den größten Teil meiner Freizeit mit Kleiner Hase, und allmählich nahm sie in meinem Leben den Platz ein, den einst Xiaolan innegehabt hatte.
    Sie erinnerte mich an mich selbst, als ich mit fünf Jahren Pflichten im Haushalt übernehmen und meinen kleinen Bruder hüten musste. Ich brachte ihr ein paar Spiele bei, die ich in ihrem Alter gespielt hatte. Dazu flocht ich ein langes Seil aus Stroh, band ein Ende an einen Pfosten, hielt das andere und zeigte ihr, wie Gummihüpfen ging. Kleiner Hase war begeistert. Außerdem brachte ich ihr bei, Vogelnester aus Graswurzeln zu machen.
    Dafür zeigte sie mir, wie man Fische im Bewässerungsgraben fing. Wenn die Staudämme geöffnet wurden, floss das Wasser schnell vom Teich zu den Reisfeldern. Dann kniete sie sich an den Grabenrand und blockierte einen Teil des Zulaufs mit einem Bambuskorb, in dem die Fische hängen blieben. Binnen weniger Minuten hatte sie ein halbes Dutzend davon aus dem Wasser geholt. Wir nannten sie
can tiao,
kleine weiße Fische, denn sie waren nur sieben bis acht Zentimeter lang. Wir nahmen sie aus, kochten sie und ließen sie uns dann schmecken.
    Kleiner Hase war kränklich, sie wurde schnell müde. Bei unseren Besorgungsgängen zum Brigadeladen blieb sie

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