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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Alte Krabbe auf allen vieren, wie er um die Ecke der Hütte lugte. Anfangs vermutete ich, er wolle einen der Dorfbewohner bestehlen, aber es entsprach gar nicht seiner Art, so etwas heimlich zu tun. Normalerweise spazierte er einfach hinein und nahm sich, was er wollte. Ich folgte ihm und sah, wie er sich einer jungen Frau näherte, die gerade ihr Baby stillte. Sie saß, der Sonne zugewandt, auf einem Haufen Stroh. Alte Krabbe schlich sich leise von hinten an, beugte sich vor und schlang die Arme um sie. Einen Augenblick lang wehrte sie sich, bis sie erkannte, dass es Alte Krabbe war. Sie legte ihr Baby auf eine Decke und drehte sich zu ihm um. Ihre üppigen Brüste hingen aus der geöffneten Bluse.
    »Keine Sorge«, lallte Alte Krabbe und legte seine Hände auf ihre Brüste. »Ich drücke sie nicht so fest, dass dir die Milch versiegt. Ich will nur ein bisschen Spaß.«
    Er umfasste mit einem Arm ihre Hüfte und löste mit der anderen Hand seine Hose. Als sich die Frau neben dem Baby ins Stroh legte, meinte sie: »Nein, nein, nein, du schamloser alter Bock.« Doch sie lächelte dabei. »Und was bekomme ich dafür?«
    »Wie wär’s mit … zehn Arbeitspunkten für heute?«, erwiderte er, während er ihre Brüste knetete. Sie öffnete den Bund ihrer Hose, und als sie die Hüften anhob, um sie herunterzuziehen, wandte sie den Kopf in meine Richtung. Ich zuckte zurück und lief eilig zur Schule.
    Alte Krabbe war sowohl das Gesetz als auch sein oberstes Vollzugsorgan. Er diktierte Brigadekadern Berichte über Dorfbewohner, die sich in seinen Augen verdächtig benahmen oder nicht revolutionär genug waren. Dann wurden diese Personen zum Verhör bestellt, und die Beschwerden von Alte Krabbe fanden Eingang in ihre Akten. Er brachte auch Neuigkeiten über die Politik und die Bestimmungen der Partei ins Dorf. Da die Einwohner nicht lesen und schreiben konnten, erfuhren sie über die Direktiven und Anordnungen der Parteizentrale in Peking einzig und allein das, was er ihnen erzählte. Hinter vorgehaltener Hand erzählten mehrere Frauen Mama, Alte Krabbe sei in die Partei aufgenommen worden, weil er der skrupelloseste Mann im Dorf sei. Und einen solchen Mann hätten die Parteifunktionäre während der Hungersnot gesucht.
    Damals hatte man ihn zum Leiter der Produktionsgemeinschaft ernannt und ihm die Verantwortung für die Verteilung der Lebensmittel im Dorf übertragen. Er entschied, wer zu essen bekam und wer nicht. Er entschied, wessen Kinder überlebten oder starben. Die Lebensmittel wurden in einem zentralen Depot aufbewahrt, und wer dort beim Stehlen ertappt wurde, wurde sofort mit einem Kopfschuss hingerichtet. Diese Jahre hatten sich allen ins Gedächtnis eingebrannt. Die Hälfte der Dorfbewohner war der Hungersnot zum Opfer gefallen. Alle Verwandten von Alte Krabbe hatten überlebt. Nach dem Ende der Hungersnot wurde ihm im Brigadehauptquartier in einer pompösen Zeremonie die Parteimitgliedschaft verliehen, und man pries seinen selbstlosen Dienst an der Nation, der Partei und den Bewohnern des Dorfes Gao.

Kapitel 36
    A n einem Frühlingstag tauchte unerwartet Papa in Gao auf. Er hatte den Bus zur nächstgelegenen größeren Straßenkreuzung genommen und die letzten Kilometer zu Fuß zurückgelegt.
    Die Partei, so berichtete er, habe eine letzte Demütigung für ihn auf Lager gehabt, ehe sie ihn aus dem Dorf Nan entließ: Sein Arbeitsvertrag mit der Universität war gekündigt worden. Man hatte ihn nicht nur seines Einkommens beraubt, sondern auch von der staatlichen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. In den Augen des Staates war er jetzt eine Unperson.
    Zur gleichen Zeit deckte die Universitätsleitung den Betrug auf, der mir die Behandlung im Militärkrankenhaus von Hefei ermöglicht hatte. Mama wurden die Kosten in Rechnung gestellt. Sie betrugen so viel, wie sie in zwei Monaten verdiente. Ob Genossin Pan und der freundliche General ebenfalls bestraft worden waren, weil sie mir das Leben gerettet hatten, erfuhren wir nie.
    Papa hielt sich erst wenige Minuten in unserer Hütte auf, als Alte Krabbe mit einigen Dörflern im Schlepptau erschien. Mein Vater reichte Alte Krabbe seine Entlassungspapiere, die dieser allerdings nicht lesen konnte. Er tat, als würde er sie eingehend studieren, und knüllte sie dann verächtlich zusammen. »Das Wichtigste, was du dir merken musst«, fauchte er Papa an, »ist, dass ich hier der Chef bin. Du hast zu tun, was ich sage.«
    »Selbstverständlich«, erwiderte Papa

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