Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Beliebtheit mit Sorge. Sie gab zu bedenken, dass »sich in einem großen Baum der Wind fängt«, und ermahnte ihn, Schutz in der Anonymität zu suchen. Papa räumte ein, dass er mit seiner Leidenschaft für seine Arbeit die kritischen Blicke des Lehrkörpers und der Verwaltung auf sich zog, was Gefahren mit sich brachte. Ja, er habe sich »auf dünnes Eis begeben«. Doch er glaubte, seine Kritiker würden mit der Zeit erkennen, dass er nur das simple Ziel verfolgte, seinen Studenten etwas beizubringen und ihren Geist zu beflügeln. Er übersah, dass dünnes Eis schon bei einem leichten Temperaturanstieg brüchig wird.
Ein junger Dozent überwachte Papas ideologische Reformierung und unterwies ihn in der Lehre der Kommunistischen Partei. Im Gegenzug lehrte ihn Papa englische Literaturwissenschaft. Es war für beide eine merkwürdige Situation. Der junge Mann schrieb für meinen Vater Buchbesprechungen und Aufsätze über Literatur, und Papa schrieb für ihn politische Aufsätze und übte Selbstkritik.
Nach zwei Jahren hervorragender Lehrtätigkeit ließ der Parteisekretär Papa wissen, dass sein politischer Status revidiert würde. Seine beiden »Hüte« – »Rechtsabweichler« und »Element in Umerziehung« – würden ihm abgenommen werden, und man werde ihm künftig auch keinen Polit-Ausbilder mehr zuweisen.
Am 4 . Juli 1964 , dem dritten Jahrestag seiner Entlassung aus dem Straflager, wurde Papa offiziell von seinen »Hüten« befreit und wieder »in die Reihen des Volkes« aufgenommen. Was aber so nicht stimmte. Denn er wurde nicht zu einem angesehenen Bürger und Fakultätsmitglied, sondern lediglich zu einem »Rechtsabweichler in Umerziehung, dem man seine Hüte genommen hat«. Ein diskriminierendes Etikett wurde durch ein anderes ersetzt. Und es verstand sich von selbst, dass »das Volk« – sprich: die Staatsgewalt – die Hüte weiterhin bereithalten würde, um sie ihm nach Gutdünken wieder aufzusetzen.
Man teilte Papa mit, dass sein veränderter Status mit einer erheblichen Gehaltsaufbesserung verbunden sei. Zudem durfte Mama jetzt Studenten, die Anglistik nur im Nebenfach belegt hatten, in Englisch unterrichten. Zwar durfte sie nun wieder ihren Beruf ausüben, doch die entsprechenden Gehaltsanpassungen wurden bis zur letzten Woche des Jahres verschoben. Papa erhielt die Mitteilung, dass ihm in Anerkennung der »Fortschritte in seinem Bewusstseinswandel« und seiner herausragenden Lehrbefähigung eine Gehaltserhöhung von zehn Yuan monatlich gewährt wurde. Was für eine Enttäuschung. Dabei hatten wir gehofft, wir würden uns jetzt besseres Essen leisten können. Doch Mama meinte, wir sollten auch für diese kleine Wohltat dankbar sein: »Zehn Yuan sind besser als nichts.« So konnten wir uns jeden Monat ein paar Eier mehr und gelegentlich ein bisschen mehr Fleisch leisten.
Kapitel 6
D as Universitätsgelände war von einer hohen Mauer mit vier Toren umgeben. Innerhalb dieser Mauern befanden sich mehrere Unterrichts- und Verwaltungsgebäude, Wohnungen für den Lehrkörper, das übrige Personal und die Studenten, ein Krankenhaus, ein paar Läden für die Campusbewohner und ein Kinderbetreuungszentrum.
Das war ein einstöckiger Betonbau am Nordende des Geländes. Fast zweihundert Kinder besuchten die Einrichtung, von Kleinkindern bis zu Siebenjährigen. Danach wurden sie eingeschult, in der Grundschule außerhalb der Universitätsmauern, die etwa fünfzehn Minuten vom Campus entfernt war. Als Mama mich im Herbst 1962 im Kinderbetreuungszentrum anmeldete, war ich vier.
Die Kinder wurden in Altersgruppen aufgeteilt und in eine von vier Klassen gesteckt. Jede wurde von zwei Lehrerinnen betreut. Neben den Klassenzimmern gab es noch eine Küche, in der das tägliche Essen zubereitet wurde. Die Mahlzeiten wurden in den Klassenzimmern eingenommen. Das gesamte Personal war weiblich, mit Ausnahme des Kochs, den wir Onkel Liu nannten.
Unsere Tage verbrachten wir hauptsächlich mit einfachen schulischen Übungen: Wir lernten Chinesisch lesen und schreiben sowie die Grundrechenarten, zeichneten und übten uns in Kunstfertigkeiten wie Papier falten. Ein Teil des Tages war dem organisierten Spielen auf dem Spielplatz gewidmet. Während die Kinder bis zu drei Jahren Fangen spielten, sich auf der Rutsche und dem Karussell vergnügten oder im Sand buddelten, übten die Älteren zwischen vier und sieben Jahren Gummihüpfen. Dies erforderte Improvisationstalent, weil wir kein richtig langes Gummiband hatten.
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