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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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ist so schade. Aber es ist wohl Chunyings Schicksal. Ihr Leben war bitter. Und jetzt hat sie diese Bitterkeit auch in unser Leben gebracht. Sie hat ja schon so ein Ding, das wir weggeben müssen.« Bei dem Wort »Ding« zeigte sie auf das kleine Mädchen am Boden. »Wir sind arm. Wir können uns nicht noch mehr Schuldeneintreiber leisten.« Damit meinte sie, dass Mädchen ihre Familien zuerst Geld kosteten, dann aber heirateten und zu dem Bräutigam zogen. »Die beiden Babys waren echte Schuldeneintreiber; sie kamen am Tag vor Neujahr zur Welt!« Dies war der traditionelle Termin, an dem Schulden eingetrieben wurden.
    Da lief es mir kalt über den Rücken. Mich beschlich eine Vorahnung dessen, was sie mir enthüllen würde. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, wäre weggerannt oder hätte ihr die Hand auf den Mund gepresst, damit sie es nicht aussprechen konnte. Doch ich blieb vor ihr stehen und wünschte mir, dass es nicht wahr wäre.
    »Chunying durfte sie noch am Neujahrstag behalten. Als Glücksbringer. Es war eine schwere Geburt. Sie hielt jedes in einem Arm. Aber sie wusste … sie
wusste
es doch.«
    »Chunying wusste was?«, fragte ich und versuchte, ruhig zu bleiben.
    »Was man an Neujahr tut, bestimmt den Rest des Jahres. Deshalb behielten wir sie noch diesen einen Tag.«
    Die Männer hörten zwar zu, sahen aber nicht auf. Ab und zu führten sie die Zigarette an die Lippen. Ansonsten saßen sie reglos da wie Terrakottafiguren.
    »Wo sind die Mädchen jetzt?«
    »Wo sie sind? Am zweiten Tag des Jahres … haben wir sie Chunying aus den Armen genommen, als sie noch schlief, und sie in den Fluss geworfen.«
    Mir wurde übel. Ich schlug die Hand vor den Mund und lehnte mich Halt suchend an die Wand. Dann rannte ich aus der Hütte. Und schrie. Hinter mir knallte die Tür zu. Ich fiel auf die Knie und schluchzte.
    Schließlich stand ich auf und ging schnurstracks zu dem Steg, der aus dem Dorf hinausführte. Jetzt hatte ich keine Angst mehr hinunterzufallen. Ich kniete mich auf den Steg und spähte ins eisige Wasser. Ob Chunyings Mann oder ihr Schwiegervater oder beide die Babys in den Fluss geworfen hatten? »Haben sie euch in eine Decke gewickelt?«, wimmerte ich. »Habt ihr geschlafen, als man euch aus Chunyings Armen riss? Habt ihr geschrien, weil es plötzlich so kalt war? Oder habt ihr keinen Laut von euch gegeben?«
    Es schnürte mir die Kehle zu. Ich fragte mich, ob die Kinder erfroren oder ertrunken waren. Und was hatten die Männer dabei gedacht? Tat es ihnen leid? Hatten sie überhaupt etwas dabei empfunden? Oder war es einfach eine Pflicht gewesen, so wie man den Müll wegbrachte? Etwas, das man tat, ohne groß nachzudenken? Hatten sie Gewissensbisse, weil sie zwei kleine Mädchen umgebracht hatten? Oder waren sie zornig, dass Chunying ihnen kleine Mädchen aufgehalst hatte? Sie mussten sich schuldig fühlen und ihre Tat bedauern, überlegte ich. Ein Funken Mitgefühl, ein bisschen Wärme und Anteilnahme musste auch in ihnen sein.
    Und ich begann, mir meine Fragen selbst zu beantworten: »Nicht genug Mitgefühl, um euch am Leben zu lassen. Nicht genug Mitgefühl, um euch fortzugeben. Nicht genug! Diese Welt ist voller Ungeheuer!«
    Ich fragte mich, wie viele Hundert oder Tausend neugeborene Mädchen schon von Brücken und Stegen wie diesem geworfen worden waren. Nicht wenige ereilte ein noch grausameres Schicksal. Ich hatte gehört, dass die Bauern sich oft nicht einmal die Mühe machten, bis zum Fluss zu gehen, sondern die nackten Babys draußen hinlegten und einfach erfrieren ließen. Oder sie steckten sie kopfüber in einen Wasser- oder Urineimer.
    »Wenigstens seid ihr einen sauberen Tod gestorben«, flüsterte ich den Zwillingen zu. »Und es ging bestimmt ganz schnell. Vielleicht habt ihr ja kaum etwas gespürt.«
    Das war der positivste Gedanke, den ich mir abringen konnte, während ich auf dem Steg kniete und ins eisige, dunkle Wasser hinabschaute. Weinend machte ich mich auf den Heimweg, die Tränen gefroren auf meinen Wangen. Was würde wohl passieren, wenn ich jemanden aus diesem Dorf heiratete und ein Mädchen bekam? Brächte mein Mann es übers Herz, mein Kind umzubringen? In diesem Moment beschloss ich, niemals jemanden vom Land zu heiraten. Lieber wollte ich sterben.
    Es fing an zu schneien. Ich starrte in den dichten weißen Schleier aus Flocken und versuchte, ein Bild der beiden Mädchen darin zu entdecken, die jetzt in einer besseren Welt miteinander spielten. Wieder

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