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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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gehen.«
    Nun wusste ich, was ich von Jigui zu erwarten hatte. Als ich eines Tages vor unserer Hütte mit meinen Brüdern Verstecken spielte, schaute er uns zu und fragte, ob er mitspielen dürfe. »Klar«, sagte ich. »Dreh dich um und zähl bis zehn. Dann such uns. Dabei musst du sagen: ›Ich finde euch, ich finde euch.‹ Und wenn du einen von uns gefunden hast, schlägst du ihn ab und rufst: ›Du bist’s!‹ Und dann bist du mit dem Verstecken an der Reihe.«
    Er verstand die Spielregeln nicht, sondern glaubte, man müsse einfach nur herumrennen und Leute schlagen, und das gefiel ihm. Ungestüm jagte er uns nach und schlug uns so fest auf den Rücken, dass es wehtat. »Du bist’s! Du bist’s!«, rief er. Das machte ihm großen Spaß.
    Mitten in unserem Spiel kam Alte Krabbe vorbei. Jigui raste auf ihn zu, schlug ihn hart auf den Hinterkopf und rief: »Du bist’s!« Alte Krabbe stolperte, fuhr herum und brüllte: »Du verdammter Idiot! Wie kannst du es wagen, Hand an ein Parteimitglied zu legen?«
    Er packte Jigui und schlug auf ihn ein. Jigui fiel hin, worauf sich Alte Krabbe einen Rechen schnappte und damit auf ihn einstach. Doch es gelang Jigui zu entwischen. Aus der Ferne rief er: »Du bist’s, Alte Krabbe! Du bist’s!«
    Alte Krabbe ging zur Hütte von Jiguis Eltern und stellte sie zur Rede. »Euer Sohn hat versucht, ein Mitglied der Kommunistischen Partei umzubringen«, behauptete er. »Das ist ein Staatsverbrechen. Euer Junge ist ein Konterrevolutionär. Laut den Sechs Artikeln über die öffentliche Sicherheit kann ich ihn dafür ins Gefängnis stecken.«
    Jiguis Vater flehte Alte Krabbe an, das Leben des Jungen zu schonen. Sun-Brust drückte Alte Krabbe eine noch ungeöffnete Packung Zigaretten in die Hand. »Komm doch bitte später zum Essen vorbei, Gemeinschaftsleiter. Ich werde ein Huhn für dich schlachten. Und Jigui bekommt Prügel von mir. Er wird einen Kotau vor dir machen.«
    Alte Krabbe zögerte, dann sagte er: »Diesmal werde ich ihm noch vergeben. Aber nur dieses eine Mal.«
    »Danke«, sagte Jiguis Vater. »Er wird dafür bezahlen, glaube mir.«
    Drei Tage später kam Jigui zu unserer Hütte. Sein Gesicht war geschwollen und mit blauen Flecken übersät. »Alte Krabbe hat gesagt, ich darf nicht zu euch ins Haus«, sagte er.
    »Warum hat er das gesagt, Jigui?«, fragte Mama.
    »Weil ihr schlechte Leute und Kapitalistenhelfer seid.«
    »Aha.«
    »Er hat gesagt, wenn ich euer Haus betrete, bricht er mir die Beine.«
    »Dann bleibst du wohl besser draußen, Jigui«, schlussfolgerte Mama.
    »Ich habe einen Kotau vor Alte Krabbe gemacht.«
    »Ach, ja? Und hat er dir verziehen?«
    »Nein. Er hat meinen Kopf getreten«, antwortete Jigui. »Ist Alte Krabbe ein guter oder ein böser Mann, Lehrerin Li?«
    Mama tat, als hätte sie seine Frage nicht gehört.
    Plötzlich brach es aus Jigui heraus: »Lehrerin Li, Papa hat mich geschlagen, weil er nicht mein richtiger Papa ist!«
    »Ich kenne deine Mama und deinen Papa, Jigui. Sie sind brave Leute.«
    »Nein, du kennst sie nicht. Mein richtiger Papa ist der Vorsitzende Mao«, sagte er, und seine Stimme wurde lauter.
    »Was meinst du damit?«, fragte Mama.
    »Der Vorsitzende Mao ist mein Papa«, beharrte Jigui. »Ich habe sein Rotes Buch. Ich habe ein Bild von ihm. Ich liebe ihn.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Ich habe gehört, wie Leute gesagt haben, dass der Vorsitzende Mao lieber ist als jede Mama und jeder Papa. Sie haben gesagt, dass der Vorsitzende Mao mich liebt. Also ist der Vorsitzende Mao mein richtiger Papa.«
    »Gut«, meinte Mama. »Geh jetzt spielen.«
    »Ja«, lächelte er. »Ich gehe Scheiße suchen, damit mein richtiger Papa stolz auf mich ist.«

Kapitel 39
    I m Herbst beteiligte sich das ganze Dorf an der Reisernte. Die Schule fiel aus, damit die Kinder ihren Eltern auf den Feldern helfen konnten. Selbst die Allerkleinsten arbeiteten mit. Wenn nach der Ernte die Felder umgepflügt wurden, liefen sie darüber und trampelten die Wurzeln der abgeernteten Pflanzen nieder.
    Bei Tagesanbruch weckte Alte Krabbe mit schrillen Pfiffen das ganze Dorf, gab bellend seine Anweisungen und führte die Dorfbewohner in einer langen Kolonne zu den Feldern. Er selbst marschierte an der Spitze, in der Hand eine hölzerne Stange mit einem riesigen Bild des Vorsitzenden Mao. Eines Morgens ging meine Freundin Wang Jinlan auf dem Weg zu den Feldern neben mir. Jigui, der Dorftrottel, folgte uns, obwohl er nicht zur Feldarbeit eingeteilt war. Jinlan war

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