Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
redete ich zu den Zwillingen, in einem fast hysterischen Singsang, fragte und antwortete, ballte die Fäuste, wischte mir die Tränen ab. Immer wieder stolperte ich, weil mir alles vor den Augen verschwamm. Einmal fiel ich in den Straßengraben. Ich machte mir nicht die Mühe, meine Kleider zu säubern. Als ich zu Hause ankam, war ich durchgefroren und voller Schnee und Dreck.
»Wie geht’s den Babys, Yimao?«, fragte Mama, kaum dass ich zur Tür hereingekommen war.
»Sie sind tot«, stieß ich schluchzend hervor. »Mama, sie haben sie umgebracht!«
Mein Vater saß am Tisch und schaute zu mir hoch, schwieg aber.
»Gott im Himmel!«, rief Mama aus. Dann trat sie zu mir: »Und du? Alles in Ordnung?«
»Nein«, sagte ich. »Nichts ist in Ordnung.« Ich zog Jacke und Hose aus, kroch ins Bett und weinte den Rest des Tages.
Mama erwähnte Chunyings Babys nie mehr. Und auch sonst keiner. Eine solches Vorgehen war ja nicht unüblich. Aber mir schnitt es ins Herz und hinterließ eine tiefe Narbe. Die Erinnerung daran wird mich bis an mein Lebensende verfolgen. Vor diesem Tag hatte ich solche Geschichten zwar gehört, jetzt wusste ich aber, dass sie wahr waren.
Kapitel 38
D en Dorftrottel lernte ich kennen, als ich eines frühen Morgens nach Dung suchte. Gerade wollte ich einen Haufen Hundekot auf meine Schaufel nehmen, da kreischte eine Stimme hinter mir: »Finger weg! Das ist meine Hundescheiße! Wag es nicht, sie anzurühren!«
Hinter mir stand ein junger, ungewöhnlich großer Mann mit langem, ungekämmtem Haar, schmutzigem Gesicht und von gedrungener Statur. Er erinnerte mich an eins der wilden Tiere, die ich im Zoo von Hefei gesehen hatte. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, baute er sich vor mir auf, kniff drohend die Augen zusammen und schrie: »Ich hab dich gesehen! Ich weiß, was du tust.«
»Schon gut«, sagte ich. »Dann ist es eben deine Scheiße.« Ich nahm meinen Korb und flüchtete.
Atemlos kam ich zu Hause an. Meine Mutter fragte, was passiert war, und ich erzählte es ihr. »Warum sammelt ein Erwachsener Hundekot?«, wunderte ich mich. »Das ist doch Kinderarbeit.«
Lächelnd sagte Mama: »Oh, du hast gerade Sun Jigui kennengelernt, den Dorftrottel. Er ist ein braver Junge. Ein bisschen groß und laut, aber harmlos.«
»Wieso heißt er Dorftrottel?«
»Keine Ahnung. Aber jeder nennt ihn so.«
Ein paar Tage später kam eine Frau mittleren Alters in unsere Hütte.
»Hast du schon gegessen, Sun-Brust?«, begrüßte Mama sie.
Verblüfft hörte ich, dass meine Mutter die Frau mit »Brust« ansprach – so nannten die Bauern hier in Gao jede verheiratete Frau. In der Stadt war der Ausdruck »Tante« gebräuchlich.
»Sun-Brust ist Jiguis Mutter«, stellte sie mir die Frau vor.
Während die beiden sich unterhielten, saß ich am Ofen und hörte zu. »Darf ich fragen, wie Jigui so geworden ist?«, erkundigte sich Mama. »Was ist passiert?«
Sun-Brust atmete tief ein und seufzte. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden. Der Junge ist jetzt fünfzehn. Er isst, er schläft, er sammelt Dung. Aber ansonsten macht er uns nur Sorgen. Jigui war drei, als die Hungersnot begann. Seine Schwester war fünf. Damals aßen wir alle in einer Volksküche, jeder bekam eine genau bemessene Ration. Wir erzählten allen, dass seine Schwester krank sei, und nahmen ihre Portion mit heim. Dort gaben wir sie Jigui.
Das Mädchen weinte und versuchte fortzulaufen. Mein Mann hat sie ans Bett gebunden und geknebelt.
Als sie zwei Wochen später starb, traute ich mich nicht zu weinen. Ich fürchtete, die Leute würden dann merken, was wir getan hatten. Wir behielten ihren Leichnam im Haus, damit wir weiterhin ihre Ration bekamen. Doch irgendwann begann sie zu verwesen, und wir mussten sie begraben.
Es war nicht leicht für uns. Aber nur so konnten wir Jigui retten.
Wenn wir damals gewusst hätten, wie er sich entwickeln würde, hätten wir natürlich sie und nicht ihn gefüttert. Wie viel einfacher wäre dann alles für uns geworden!
Der Arzt sagt, es sei vielleicht eine Folge dieser Jahre, dass er so ist. Vielleicht haben wir ihm immer noch nicht genug zu essen gegeben.«
»Manchmal wirkt er ganz normal«, meinte Mama. »Warum bringst du ihn nicht zu einem anderen Arzt?«
»Ach, wir haben ja kaum genug zu essen«, entgegnete Sun-Brust. »Wie sollen wir uns da einen Arzt leisten? Beim Frühstück wissen wir nicht, ob es abends auch etwas gibt. Wir haben nie genug Geld gehabt, um zu einem anderen Arzt zu
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