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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Männern hochgehalten wurde. Sie wünschten dem Großen Steuermann ein langes Leben und verbeugten sich dreimal. Dann verneigte sich das Hochzeitspaar dreimal vor den Eltern der Braut und des Bräutigams und anschließend voreinander. Damit war die Ehe geschlossen.
    Einer der jungen Männer rief: »Zeit für den Ulk im Schlafzimmer!« Die frisch Vermählten wurden ins Schlafzimmer geleitet, wo die Dorfbewohner ihre Späße mit ihnen trieben. So mussten sie tanzen, einander bekannte Revolutionslieder vorsingen und mit einem Bein auf einem Hocker stehen. Manche legten Datteln unter das Laken des Ehebetts, denn dadurch würde dem Paar angeblich bald ein Sohn beschert werden. Andere flößten ihnen Suppe aus Lotossamen ein, denn man glaubte, sie werde die Eheleute mit einer ganzen Reihe von Söhnen beglücken. »Große kräftige Söhne sind kostbarer als Gold«, verkündete einer der Dorfältesten.
    Bei Einbruch der Nacht gingen die Leute zurück in ihre Hütten oder machten sich auf den Heimweg zu ihren Dörfern. Man lud mich ein, in Bao zu übernachten. Die ganze Nacht dachte ich nur über meine Freundschaft mit Chunying nach. Am Morgen brach ich in aller Stille auf. Als ich das Dorf verließ, sah ich draußen Chunying, die für ihre neue Familie Wasser holte. Ich lief auf sie zu, sie drehte sich zu mir um und lächelte matt. Wir hielten uns bei den Händen, wie wir es früher oft getan hatten. »War es schön, mit deinem Mann zu schlafen?«, platzte ich heraus.
    Am Vorabend hatte ich all die Witze darüber gehört, was das Paar nachts tun würde. Kurz bevor Chunying geheiratet hatte, hatten wir uns darüber unterhalten, aber so genau wussten wir beide nicht, was zwischen Mann und Frau im Bett geschah. Es war etwas Geheimnisvolles, worüber man nicht sprach.
    Sie errötete und senkte den Blick. »Das erfährst du, wenn du selbst heiratest«, erwiderte sie.
    »Ich will es aber jetzt wissen, Chunying«, beharrte ich.
    »Er hat mir wehgetan. Sehr weh.«
    Mehr sagte sie nicht. Ich war zutiefst bestürzt. Chunyings Ehemann hatte ihr in der Hochzeitsnacht wehgetan! Von da an hatte ich gemischte Gefühle, was das Heiraten betraf. So viel Feierlichkeit und Schlemmerei und Spaß, und all das gipfelte darin, dass der Ehemann seiner Frau Schmerz zufügte. Eigentlich hatte ich Chunying sagen wollen, dass sie meine Brautjungfer sein solle, wenn ich einmal heiratete. Aber als ich sie nun so sah und ihre traurigen Worte hörte, meinte ich nur: »Ich komme bald wieder, Chunying.« Sie nickte und trottete, mit den Wassereimern beladen, zurück zu ihrem neuen Zuhause.

Kapitel 37
    D anach verbrachte ich meine Nachmittage allein. Chunying fehlte mir so sehr! Als ich eines Tages zwei Mädchen auf dem Rücken eines Wasserbüffels zur Weide reiten sah, dachte ich voller Trauer an meine Freundin zurück. Am nächsten chinesischen Neujahrsfest ging ich zu ihr, denn um diese Zeit war es üblich, Verwandte und Freunde aufzusuchen. Inzwischen hatte sie ihr erstes Kind bekommen, ein niedliches, pummeliges Mädchen mit rundem Gesicht. Es war in eine neue Decke gewickelt, trug ein rotes Hemd aus gestepptem Stoff und grüne Hosen und sah wohlgenährt und gesund aus. Doch als Chunying und ich uns unterhielten, hatte ich das Gefühl, dass wir uns nicht viel zu sagen hatten. Immer wieder gab es langes Schweigen und peinliche Gesprächspausen, wie wir sie früher nie gekannt hatten. Auf meine Fragen antwortete sie meist einsilbig oder nur mit einem Nicken. Sie schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein und wirkte bedrückt. Bevor wir uns verabschiedeten, hielten wir uns einen Augenblick an den Händen, doch sie wich meinem Blick aus.
    Als Chunyings Eltern ein Jahr später an Neujahr bei uns zu Gast waren, erkundigte ich mich nach ihr. »Wie geht es Chunying? Kommt sie euch besuchen?«
    »Aber nein, Yimao«, erwiderte ihre Mutter. »Sie ist gerade wieder Mutter geworden.«
    »Und ist es diesmal ein Junge?«, fragte ich, weil ich wusste, wie sehr sich ihre Schwiegereltern einen Enkel wünschten.
    »Nein«, sagte ihre Mutter. »Zwillingsmädchen.«
    »Zwillingsmädchen!«, kicherte ich entzückt. »Die muss ich mir unbedingt ansehen.«
    Zwei Tage später machte ich mich auf den Weg zu Chunying. Als Geschenk nahm ich eine Handvoll rarer Süßigkeiten mit, die uns Verwandte aus Tianjin geschickt hatten. Hinter Gao stieg die Straße in Richtung Berge an. Ich blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und ließ den Blick zurückschweifen. Eine dünne Decke

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