Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Neuschnee bedeckte die Landschaft um Gao. Aber noch etwas anderes hatte sich seit Chunyings Hochzeit verändert: Es gab keine Bäume mehr. Im letzten Herbst hatte Alte Krabbe befohlen, rings um das Dorf alles abzuholzen. Er nannte das »den kapitalistischen Schwanz abhacken«. Um zu verhindern, dass die Dorfbewohner für ihren eigenen Bedarf Bäume fällten, ließ er im Namen des Sozialismus die Wälder roden, verkaufte das Holz und steckte den Gewinn in die eigene Tasche.
Jetzt stand der einstmals höchste Baum aus dem angrenzenden Wald als Holzmast mitten im Dorf, und an seiner Spitze hing ein Lautsprecher, aus dem ständig Bekanntmachungen des Kommunenhauptquartiers, Nachrichten und patriotische Lieder plärrten.
Schneidende Kälte blies mir ins Gesicht. Ich stapfte durch die Landschaft und sang vor mich hin. Was für ein Glück Chunying doch mit ihren Zwillingen hatte, dachte ich. Was für Namen sie ihnen wohl gegeben hatte? Wie mochten sie aussehen? Würden sie mich anlächeln?
Als ich mich dem Dorf näherte, sah ich Rauch aus den Kaminen steigen. Niemand war draußen, man sah auch keine Fußspuren im Schnee. Alles wirkte still und friedlich, und ich malte mir aus, wie die glücklichen Familien zusammen das Neujahrsfest feierten.
Vor dem Dorf überquerte ich einen Steg aus drei zusammengebundenen Baumstämmen, der über einen reißenden Fluss führte. Im Wasser schwammen Eisschollen. Ich erinnerte mich, dass Chunying kurz den Schleier gelüftet und ängstlich in das Wasser gestarrt hatte, als sie mit der Hochzeitsgesellschaft den Steg überqueren sollte. Die Dorfbewohner hatten ihr dann hinübergeholfen. Doch an diesem Vormittag war ich allein. Wenn ich ausrutschte und hinunterfiel, war niemand da, der mich retten konnte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bewegte mich mit kleinen Schritten langsam die Stämme entlang.
Endlich stieß ich die Tür zu Chunyings Hütte auf. »Ich bin’s, Yimao«, rief ich. »Ich bin gekommen, um die neuen Babys zu sehen!«
Die Erwiderung auf meine Begrüßung war Schweigen. Ich blinzelte mehrmals, um meine Augen an die Dunkelheit in dem Raum zu gewöhnen. Als ich etwas erkennen konnte, sah ich Chunyings Mann und ihren Schwiegervater vor dem Ofen hocken und rauchen. Sie schauten nicht einmal zu mir auf. In der Mitte des Raums bewegte sich etwas – Chunyings Töchterchen, in einen wattierten Anzug gepackt, starrte mich an. Sie hatte eine Rotznase und Essensreste auf Kinn und Jacke. Da berührte eine Hand meinen Arm, und ich drehte mich um. Neben mir stand Chunyings Schwiegermutter.
»Wo sind Chunying und die Babys?«, fragte ich. Sie deutete zum Zimmer nebenan.
Ich ging in das Schlafzimmer, in das nur wenig Licht aus einem winzigen Fenster drang. »Chunying«, sagte ich, »ich bin es, Yimao. Ich bin hier, weil ich deine Babys sehen möchte. Und ich habe dir Süßigkeiten aus Tianjin mitgebracht.«
Ich trat an ihr Bett und suchte die Babys. Chunyings Haar war stumpf, sie hatte ein schmutziges weißes Tuch darumgeknotet. Und sie war mager und abgehärmt. Mit leerem Blick aus ihren dunklen, traurigen Augen betrachtete sie mich, als hätte sie mich noch nie gesehen. »Was ist los, Chunying? Wo sind deine kleinen Töchter?«, fragte ich.
Aber Chunying antwortete nicht und starrte mich nur weiter ausdruckslos an.
Eine Träne rollte über ihre Wange. Ich beugte mich zu ihr. Chunying bewegte die Lippen, doch ich konnte nichts hören. Ich legte mein Ohr an ihren Mund. Mit der schwachen Stimme eines kleinen Mädchens piepste sie: »Xiao Mao. Xiao Mao … du bist hier.« Wenn wir früher zusammen gespielt hatten, hatte sie mich gern Xiao Mao oder Kleine Mao genannt.
»Ja, ich bin’s, Xiao Mao«, sagte ich. »Ich bin durch all den Schnee gestapft, um dich und die Babys zu sehen.«
»Die Babys«, sagte sie in einem Ton, als hätte sie gar nicht richtig zugehört. Dann wiederholte sie: »Xiao Mao … du bist hier.«
»Wo sind deine Kleinen, Chunying?«
Sie drehte den Kopf zur Wand, und ihr entrang sich ein leises, verzweifeltes Stöhnen. Da kam ihre Schwiegermutter herein. »Chunying braucht jetzt Ruhe«, meinte sie und zog ihr die Decke hoch bis zum Kinn. Ich legte die Süßigkeiten darauf und ging mit der alten Frau aus dem Zimmer. »Ich gehe jetzt, Chunying«, sagte ich. »Aber ich komme wieder.«
Nebenan fragte ich: »Wo sind die Babys? Und warum ist Chunying so traurig? Sie sollte doch glücklich sein.«
»Ach«, setzte die Schwiegermutter an und seufzte tief. »Es
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