Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
geblieben war. Die ältere Frau zeigte mir, wie ich Chunying die Hand reichen sollte. Da hob Chunying den Kopf. Durch den Schleier konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, doch ich bemerkte einen dunklen Fleck auf dem Stoff – von ihren Tränen, wie ich vermutete. Sie ergriff meine Hand und erhob sich. Während die ältere Frau uns den Weg bahnte, führte ich Chunying zur Tür. Das Gehen bereitete ihr Mühe, sie schwankte hin und her, als ringe sie um ihr Gleichgewicht. Ich wusste nicht, wer von uns mehr Angst hatte: Wir zitterten beide wie Espenlaub.
Gleich nachdem Chunying die Schwelle überschritten hatte, hielt sie inne, worauf ihr eine der Frauen die alten Schuhe auszog. Alle Blicke ruhten auf Chunying. Ich geleitete sie zu dem Weg, der durch unser Dorf und aufs Land hinausführte. Als wir losgingen, hörten wir, wie hinter uns ihre Mutter und ihr Vater in Tränen ausbrachen. In diesem Moment wurde mir der Ernst und die Endgültigkeit dieser Zeremonie erst richtig bewusst, und ich fing ebenfalls an zu weinen. Chunying drückte mir sachte die Hand.
An der Spitze der Prozession ging der Bräutigam. Er wirkte genauso nervös und unsicher wie ich. Mit seinem runden, geröteten Gesicht und den schmalen Augen sah er recht gewöhnlich aus und unterschied sich kaum von all den anderen jungen Männern, die auf dem Land lebten. Er war kaum größer als Chunying. Kein gut aussehender Mann, aber immerhin auch nicht hässlich.
Wir marschierten in einem langen Zug durch mehrere Dörfer. Überall kamen uns Leute entgegen und begrüßten uns mit Gesängen und Sprechchören. Die Braut und der Bräutigam wurden mit gutmütigen Scherzen geneckt. Von der Braut erwartete man, dass sie schüchtern war und schwieg. Als die Dorfbewohner so lachten und schrien, drückte Chunying meine Hand noch etwas fester. Während der zweistündigen Wanderung zu ihrem neuen Zuhause sprach keiner von uns ein Wort.
Unmittelbar vor dem Dorf Bao empfing uns eine Abordnung, die uns zum Haus des Bräutigams brachte. Kinder kamen herbeigelaufen, um die Braut zu begaffen. Vor der Hütte des Bräutigams waren ein Dutzend Tische für das Festmahl aufgebaut, zu dem jeder im Dorf und alle, die aus Gao kamen, eingeladen waren. Chunying saß am selben Tisch wie ihr Ehemann. Man hatte eigens ein Schwein geschlachtet, und so gab es für alle Fleisch und Gemüse. Es war das Leckerste, was ich seit Monaten gegessen hatte, und ich schlug mir den Bauch voll. Chunying, die neben mir saß, brachte keinen Bissen hinunter. Inmitten des festlichen Treibens tat mir meine liebste Freundin so leid.
Alle tranken eine speziell in diesem Dorf gebrannte Schnapssorte, ein milchig weißes Gebräu aus destilliertem Reis, das nur zu besonderen Anlässen gereicht wurde. Es war so stark, dass viele aus Gao meinten, es rinne wie flüssiges Feuer die Kehle hinunter. Als einer der Männer ein brennendes Streichholz an ein Glas mit Schnaps hielt, brannte es tatsächlich. Je mehr die Menschen tranken, desto fröhlicher und sangesfreudiger wurden sie. Ein Trinkspruch löste den nächsten ab, und jeder endete damit, dass die Leute ihre Gläser in einem Zug leerten.
Alte Krabbe saß mit seinem Sohn an unserem Tisch. Er trug ein sauberes weißes Hemd, das einen starken Kontrast zu seinem geröteten Gesicht bildete. Je später es wurde und je mehr Schnaps er trank, desto mehr glühte sein Gesicht. Er stand mehrmals auf und gab ein halbes Dutzend gelallte Trinksprüche auf das Brautpaar zum Besten. Danach plumpste er auf die Bank zurück.
Nach dem Festschmaus war es Zeit für die Hochzeitszeremonie. Die Eltern von Braut und Bräutigam und die örtlichen Würdenträger hatten sich bereits versammelt, nur von Alte Krabbe war weit und breit nichts zu sehen. Man stellte einen Suchtrupp zusammen, den sein besorgter Sohn anführte. Schließlich fand man den Leiter der Produktionsgemeinschaft bewusstlos neben einer Latrine liegen. Er hatte unachtsamerweise eine nicht ganz verloschene Zigarette in seine Hemdtasche gesteckt und sich ein großes Loch in sein Hemd gebrannt. Sein Gesicht war mit Erbrochenem verschmiert. Sein Sohn weckte ihn mit einem Eimer kaltem Wasser, säuberte ihn und führte ihn zu den anderen Honoratioren. Doch er konnte nicht allein stehen und musste sich auf seinen Sohn stützen. Alle sahen das große Loch in seinem Hemd und meinten, er habe Glück gehabt, dass er sich nicht verbrannt habe.
Braut und Bräutigam stellten sich vor ein Porträt des Vorsitzenden Mao, das von zwei
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