Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
Vom Netzwerk:
sechzehn Jahre alt und bereits zu einer hinreißend schönen jungen Frau erblüht. Wo immer sie auftauchte, zog sie die Blicke aller jungen Männer auf sich. Aber ihr Herz war nicht mehr frei.
    »Gestern war Alte Krabbe bei uns«, erzählte sie mir unterwegs, »und hatte einen Heiratsvermittler dabei. Sie haben mit meinen Eltern darüber gesprochen, dass ich Junge Krabbe zum Mann nehmen soll.«
    »O nein«, entfuhr es mir. »Du kannst ihn nicht heiraten. Jeder weiß doch, dass du Shuizi liebst.«
    »Ja.« Sie lächelte und seufzte. »Jeder weiß das. Aber was soll ich machen? Ich bin ja nur ein Mädchen. Ob ich Junge Krabbe heiraten will oder nicht, ist völlig egal. Das entscheiden Papa und Mama.«
    »Und was sagt Shuizi dazu?«, fragte ich.
    »Seine Familie kann sich nicht mit der von Alte Krabbe messen«, erklärte sie. »Er ist traurig. Aber was sollen wir tun?«
    Shuizi und sein Vater wohnten in einer Hütte ganz in der Nähe von Jinlans Familie. Shuizi war der größte und bestaussehende junge Mann im Dorf. Schon in ihrer Kinderzeit hatten er und Jinlan miteinander gespielt. Oft sahen die Dorfbewohner sie am Ortsrand spazieren gehen und miteinander reden. Für alle stand außer Frage, dass die beiden heiraten würden, sobald sie erwachsen waren.
    Shuizi erinnerte mich an die empfindsamen, melancholischen Dichter der Tang-Dynastie, von denen ich in Papas Büchern gelesen hatte. Er sah und erlebte die Welt ganz anders als die übrigen Menschen, die ich kannte. Er lächelte und lachte viel mehr als die anderen jungen Burschen. Er schien voller Lebensfreude und ließ auch andere daran teilhaben. Irgendwie hatte er sich selbst das Flötenspielen beigebracht und lernte Lieder, indem er den Musiksendungen lauschte, die aus den öffentlichen Lautsprechern des Dorfes drangen. An manchen Nachmittagen sah ich ihn mit geschlossenen Augen unter den Lautsprechern sitzen, wenn eine Pekingoper oder revolutionäre Gesänge übertragen wurden. Am nächsten Tag saß er dann woanders und spielte dieselben Melodien auf seiner Flöte. Wenn die Dorfbewohner ihn hörten, hielten sie inne, und viele setzten sich auf den Boden und lauschten seiner Musik. Alle jungen Frauen im Dorf waren von seinem Talent und seinem lebhaften Wesen angetan und beneideten Jinlan.
    Als wir fast am Reisfeld angelangt waren, packte Jigui plötzlich Jinlans Zöpfe und rief: »Schaut euch diese Zöpfe an! Länger als Kuhschwänze! Dicker als mein Penis!« Jinlan drehte sich um und gab Jigui eine Ohrfeige. Der Junge krümmte sich und wich ein paar Schritte zurück. Doch da war schon Junge Krabbe zur Stelle. Mit einer Hacke ging er auf Jigui los und schlug ihn zu Boden. »Warum belästigst du meine Brust, du verdammter Idiot?«, brüllte er. »Ich bring dich auf der Stelle um!« Unser Zug kam zum Stehen, alle Augen richteten sich auf die beiden. Alte Krabbe rannte zurück und hieb mit der Stange auf Jigui ein, an der das Porträt des Großen Vorsitzenden befestigt war. Immer wieder ließ er Maos selig lächelndes Gesicht auf Jiguis Schädel herabsausen. Jigui kauerte sich zusammen und kreischte: »Hör auf, mich mit meinem Papa zu schlagen! Aufhören! Ich bin der brave Sohn des Vorsitzenden Mao.«
    Da landete das Porträt auf Jiguis abwehrend ausgestreckter Hand und zerriss. Die Bauern schnappten nach Luft. »Scheiße!«, schrie Alte Krabbe. »Sieh nur, was du angerichtet hast! Du hast ein Loch in das Gesicht des Großen Steuermanns geschlagen. Du bist ein aktiver Konterrevolutionär.«
    Als ihm klar wurde, wie heikel die Situation war, hielt er das Porträt rasch wieder in die Höhe. Doch es hing schief, und unter dem linken Auge des Vorsitzenden Mao klaffte ein Loch.
    »Sieh, was
du
getan hast!«, rief Jigui. »Du hast mir wehgetan und meinem Papa auch!«
    Alte Krabbe und sein Sohn traten auf Jigui ein, bis er zu schreien aufhörte, sich auf die Seite rollte und vor Schmerzen stöhnte.
    »Erledigt«, erklärte Alte Krabbe den Dörflern. »An die Arbeit!« Mit dem lädierten Porträt des Vorsitzenden Mao in der Hand führte er die Kolonne aufs Feld. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Jigui davonkroch.
    An diesem Nachmittag hörten wir früh mit der Arbeit auf, weil sich ein gewaltiges Gewitter ankündigte. Der Himmel verdüsterte sich, und bald ging ein Wolkenbruch auf das Dorf nieder. Im Lauf des Abends wurde der Sturm noch heftiger, nachts ächzte und zitterte das Hüttendach bei jedem neuen Windstoß, und die Tür quietschte in den Angeln. Ich lag

Weitere Kostenlose Bücher