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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Vater. »Es wäre verdammt noch mal besser gewesen, wenn ihn wirklich der Blitz getroffen hätte. Aber wir haben eben immer Pech. Der Trottel wird niemals sterben.«
    In dieser Nacht schlich sich Jigui nach Gao zurück und versuchte, in sein Bett in der elterlichen Hütte zu kriechen. Doch seine Eltern packten ihn, fesselten ihn an den Händen, zerrten ihn hinaus und banden ihn hinter ihrer Hütte an einem Pfosten fest. Dort musste er den Rest der Nacht verbringen.
    Am nächsten Morgen überschüttete ihn Sun-Brust mit mehreren Eimern Wasser und gab ihm saubere Kleidung. Allerdings war sie darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. »Versuch nicht, dich loszumachen, sonst schlägt dich dein Vater tot«, warnte sie ihn.
    Jigui verstand die Drohung und blieb den ganzen Tag und die ganze nächste Nacht folgsam an dem Pfosten sitzen. Und auch die nächsten Tage rührte er sich nicht vom Fleck. Immer wenn ich vorbeikam, saß er still auf dem Boden und spielte mit ein paar Kieselsteinen, die er aus der Erde gepult hatte. Hin und wieder sah er zu mir herüber, drehte sich dann aber weg und spielte weiter mit seinen Steinen, als schäme er sich.
    An einem Spätnachmittag platzte Sun-Brust bei uns herein und schrie: »Hilfe! Alte Krabbe und mein Mann wollen Jigui töten! Vielleicht hören sie ja auf dich, Lehrerin Li«, flehte sie, »lass nicht zu, dass sie mein kleines Dummerchen umbringen.«
    Mama rannte mit ihr hinaus, und ich folgte ihnen. Vor der Hütte der Suns hatte sich eine Menge eingefunden, aus der Schreie ertönten. Ich quetschte mich zwischen den Bauern hindurch. In ihrer Mitte standen Alte Krabbe und Jiguis Vater über dem zusammengekauerten, blutüberströmten Jungen. Sie hatten ihn gefesselt wie ein Schwein, das geschlachtet werden sollte, und schlugen abwechselnd mit ihren Dungrechen auf ihn ein.
    »Aufhören!«, rief Mama. Ich staunte über ihren Mut und die Kraft ihrer Stimme. Die beiden Männer drehten sich mit ihren Rechen zu ihr um, und ich fürchtete schon, sie würden jetzt auf Mama losgehen. Doch sie standen wie angewurzelt da, als erwarteten sie ihren nächsten Befehl. Furchtlos schritt sie auf die Männer zu und sagte: »Lasst den Jungen in Ruhe.«
    Sun-Brust warf sich über ihren Sohn, um ihn vor weiteren Schlägen zu schützen. »Tötet mich«, heulte sie. »Aber tut ihm nicht mehr weh! Ich habe ihn geboren. Ich bin schuld und nicht er.«
    Alte Krabbe und Jiguis Vater sahen sich an. »Verrückte Alte«, sagte Alte Krabbe zu Sun-Brust, »geh aus dem Weg.«
    Mama hatte sich hingekniet, um Jigui loszubinden. Sun-Brust tat, als habe sie Alte Krabbe nicht gehört, und half Mama.
    Jiguis Vater warf Alte Krabbe einen ratlosen Blick zu. Doch auch Alte Krabbe stand völlig verblüfft da und schaute zu, wie Jigui von den beiden Frauen auf die Beine gezogen wurde und die drei sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Kaum hatten sie die Menschen hinter sich gelassen, rannte Jigui los. Schon eine Sekunde später setzte Alte Krabbe ihm nach. Fluchend schwenkte er seinen Rechen und befahl dem Burschen, stehen zu bleiben.
    Nicht nur ich, auch alle anderen liefen hinter den beiden her. Doch trotz der Schläge, die er hatte einstecken müssen, war Jigui außerordentlich schnell. Er eilte querfeldein, eine kleine Anhöhe hinauf und wieder hinunter. Gerade wollte er eine Straße überqueren, als ein Lastwagen kam.
    Der Fahrer hörte den Lärm und schaute zu den vielen rennenden Menschen hinüber, als Jigui ihm direkt vor die Motorhaube lief. Ein lauter Knall, Jigui flog durch die Luft und landete auf der anderen Straßenseite.
    Sofort sprang der Fahrer aus dem Wagen und rannte zu dem Jungen. Inzwischen hatte die Menge die Straße erreicht, und Sun-Brust schrie: »Mein Sohn! Mein Sohn!«
    Alte Krabbe gab ein hämisches Keckern von sich, als er Jigui im Straßengraben liegen sah. »Verdammt«, schleuderte er dem Fahrer ins Gesicht, »du hast gerade meinen besten Arbeiter umgebracht. Zu welcher Arbeitseinheit gehörst du? Dafür wirst du bezahlen!«
    Inzwischen hatten sich die anderen Dorfbewohner um Jigui geschart. »Mein Sohn, mein Sohn«, weinte Sun-Brust. »Warum musste das passieren?«
    Plötzlich schien Jigui von den Toten aufzuerstehen. Sein Körper zuckte, dann gab er ein Stöhnen von sich.
    »Oh, Scheiße«, nuschelte Alte Krabbe. »Der Trottel lebt noch.«
    »Was für ein Glück«, sagte der erschütterte Lastwagenfahrer erleichtert. »Ich bringe ihn sofort ins Krankenhaus. Über eine Entschädigung reden wir

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