Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
ängstlich im Bett und hörte, wie der Wind an unserer Hütte zerrte. Kurz nach Mitternacht zuckten ein paar Blitze über meinen Kopf, und ich spürte Regen im Gesicht. Ich richtete mich auf und starrte zur Decke empor. Es war stockfinster. Da, wieder ein Blitz, Donnergrollen und wieder Regentropfen. Offenbar hob jede Böe den Rand unseres Daches hoch. Ich schwang die Füße aus dem Bett und schrie: »Mama, das Dach fliegt weg!«
Doch im selben Augenblick erfasste ein weiterer Windstoß ein Stück des Daches, das sich wölbte und von der Mauer löste, in den Nachthimmel emporstieg und im nächsten Moment verschwunden war. Klitschnass und verängstigt von den vielen grellen Blitzen, die über den Himmel zuckten, rannte ich ins Zimmer meiner Eltern. »Das Dach ist weg, das Dach ist weg!«, rief ich und kroch zu ihnen und meinen Brüdern ins Bett. Wir hörten, wie der Regen auf den Boden meines Zimmers prasselte, und klammerten uns in der Dunkelheit aneinander. Plötzlich platschten wieder Regentropfen auf meinen Rücken. Ich drehte mich um und sah, dass die Ostmauer unseres Hauses in sich zusammensackte. Und was vom Dach noch übrig war, neigte sich inzwischen bedenklich zur Seite. Aus Angst, die Mauer könnte völlig wegbrechen, worauf das Dach uns unter sich begraben würde, flüchteten wir in den mittleren Bereich des Hauses.
Am nächsten Morgen fanden wir den Teil des Daches, der einst meine Zimmerdecke gewesen war, zertrümmert in einem nahen Reisfeld liegen. Die Mauer im Elternschlafzimmer war nur noch halb so hoch wie ursprünglich, und das Dach dort hatte jetzt eine Neigung von 45 Grad. Wir wollten unseren Augen nicht trauen. Aber Mama sagte nur: »Lasst uns dankbar sein. Zumindest haben wir es alle überlebt.«
Alte Krabbe begutachtete den Schaden und meinte: »Ach, da hab ich schon Schlimmeres gesehen. Das könnt ihr allein richten.«
»Aber wir wissen nicht, wie man das macht«, erwiderte Mama. »Und wir haben weder das Werkzeug noch das Material dafür.«
»Was schlägst du also vor?«
Papa kramte in einer Kiste im Schlafzimmer und kam mit zwei Schachteln Zigaretten zurück. »Die sind trocken geblieben«, sagte er und gab sie Alte Krabbe.
»Na, das klingt doch schon ganz gut«, brummte der Gemeinschaftsleiter. »Ich werde mal sehen, was ich für euch tun kann.«
Als Alte Krabbe gerade gehen wollte, erschien Sun-Brust an unserer Tür. »Jigui ist weg«, sagte sie. »Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Habt ihr ihn gesehen?«
»Sehr gut«, meinte Alte Krabbe. »Er hat gestern das Bild des Vorsitzenden Mao zerstört. Hoffentlich hat ihn der Blitz getroffen.«
»Wir haben ihn nicht gesehen«, erwiderte Mama.
»Ich mache mir Sorgen«, gestand Sun-Brust. »Wo mag mein armes Dummerchen nur sein?«
Jigui wurde auch in den nächsten zwei Wochen nirgends gesichtet. Viele Dorfbewohner nahmen an, dass er vom Unwetter überrascht worden und umgekommen war. Bald fragte niemand mehr nach ihm, und sogar seine Mutter gab die Suche auf.
Als die Reisernte eingebracht war, begann ein Trupp Arbeiter unter der Aufsicht von Alte Krabbe, unser Strohdach neu einzudecken und die eingefallene Mauer mit Lehmziegeln wieder hochzuziehen. Unterdessen ging Mama mit Yiding zu der sechs Kilometer entfernten Oberschule, um ihn dort anzumelden. Am Schultor wurden sie beinahe von einer Schülergruppe überrannt, die jemanden jagte. Meine Mutter erkannte Jigui. Er trug nur Unterwäsche und war dreckverschmiert. Die Jungen bewarfen ihn mit Steinen.
»Was geht hier vor?«, fragte Mama einen Lehrer.
»Dieser verdammte Idiot ist aus der Leprakolonie hergekommen«, erklärte der Lehrer. »Tag und Nacht treibt er sich hier rum, klaut Essen und schlägt die Schüler. Dabei ruft er immer: ›Du bist’s! Du bist’s!‹ Wir haben alle Angst, dass er uns ansteckt, und manche wollen ihn deshalb töten.«
Mama freute sich, dass Jigui noch am Leben war, machte sich aber große Sorgen um ihn, weil er bei den Leprakranken in der nahen Quarantänesiedlung gelebt hatte. Gleich nachdem sie Yiding in der Schule angemeldet hatte, eilte sie nach Hause und erzählte den Suns, was sie gesehen hatte.
»Wir können ihn nicht nach Hause holen«, sagte Jiguis Vater. »Womöglich würde er seinen kleinen Bruder anstecken.«
»Aber wir können ihn doch nicht einfach da draußen herumirren lassen«, wandte Sun-Brust ein. »Wir müssen etwas für ihn tun. Er ist unser Sohn.«
»Nein, wir müssen gar nichts für ihn tun«, erwiderte der
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