Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
später.«
»Scheiße!«, wiederholte Alte Krabbe, ohne auf das Angebot des Mannes einzugehen. »So eine Scheiße!«
Sun-Brust und ein paar Männer hoben Jigui auf die Ladefläche, und Sun-Brust kletterte neben ihn. Doch da besann sich Alte Krabbe, packte sie und zog sie wieder herunter. »Ich habe hier die Verantwortung«, erklärte er. »Ich werde den Trottel ins Krankenhaus bringen und dafür sorgen, dass er richtig behandelt wird.«
Alte und Junge Krabbe stiegen in die Fahrerkabine. Erstaunt sah der Fahrer die beiden an. »Einer muss hinten bei dem Jungen mitfahren«, sagte er. »Sonst fällt er noch runter.«
Alte Krabbe wandte sich an seinen Sohn. »Geh du nach hinten zu dem Trottel«, befahl er. »Und wenn er stirbt, klopf auf das Dach des Fahrerhauses.«
Also stieg Junge Krabbe aus und kletterte zu Jigui auf die Ladefläche. Der Lastwagen wendete und fuhr davon. Mama hatte den Arm um die schluchzende Sun-Brust gelegt. »Er wird wieder gesund«, tröstete sie die Frau. »Komm, wir gehen nach Hause.«
Zehn Tage später kam der Lastwagen zurück. »Schaut!«, rief jemand, und alle rannten zur Straße und umringten den Wagen. Da stolperte Alte Krabbe aus dem Fahrerhaus. Er sackte gegen die Tür, dann riss er sich zusammen und versuchte, gerade zu stehen. Alte Krabbe war betrunken.
Inzwischen war Junge Krabbe von der Ladefläche gesprungen, auf der Jigui noch mit dem Rücken zur Fahrerkabine saß. Dann rutschte Jigui zur Kante, und Junge Krabbe half ihm herunter. Jigui drehte sich um und nahm zwei Krücken von der Ladefläche. Entsetzt sahen wir, dass sein rechtes Bein über dem Knie amputiert worden war. Man hatte sein Hosenbein abgeschnitten und unter dem Stumpf zusammengenäht.
»Seht nur, was sie meinem Jungen angetan haben«, jammerte Sun-Brust.
»Was flennst du rum?«, lallte Alte Krabbe. »Endlich hast du mal Glück. Der Trottel war zu was gut. Der Fahrer, der ist ein braver Mann. Und seine Arbeitseinheit hat die Behandlungskosten übernommen. Außerdem«, er zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche und hielt es hoch, »haben sie uns sogar Geld gegeben für die Scherereien, die wir durch den Unfall hatten.«
Jiguis Vater trat vor und streckte die Hand aus, um das Geld entgegenzunehmen. Alte Krabbe zog zweihundert Yuan aus dem Bündel und gab sie ihm. »Ist das alles?«, protestierte der Vater. »Mein Sohn hat ein Bein verloren!«
»He«, schnaubte Alte Krabbe, während er das restliche Geld wieder einsteckte, »jetzt hör mir zu: Du hast versucht, ihn umzubringen, als er abhauen wollte. Er bedeutet dir einen Dreck! Aber ich habe eine Arbeitskraft verloren. Das gehört also mir!«
Nach seinem Krankenhausaufenthalt war Jigui wie verwandelt. Jeden Tag saß er stundenlang allein auf einem Strohbündel vor der Hütte seiner Eltern und blätterte in seinem Kleinen Roten Buch. Wenn man ihm dabei zusah, hätte man glauben können, dass er tatsächlich darin lesen konnte. Manchmal humpelte er auch auf seinen Krücken durchs Dorf, doch keines der Kinder neckte ihn. Und fragte man ihn, was er tat, lächelte Jigui und sagte: »Ich warte darauf, dass mein richtiger Papa kommt und mein Bein wieder wachsen lässt.«
Seine Mutter brachte ihm zu essen, und manchmal hockte sie sich zu ihm und unterhielt sich mit ihm. Sein Vater und Alte Krabbe taten so, als wäre er Luft.
Kapitel 40
N achdem ich die fünfte Klasse der Brigade-Grundschule abgeschlossen hatte, wechselte ich auf die Mittelschule der Kommune. Sie war zu Fuß eine Dreiviertelstunde von unserem Zuhause entfernt. In diesem Jahr entschied sich Lehrer Lu, wieder als reisender Hausierer zu arbeiten. Er fand es weniger anstrengend, seine Waren zu verkaufen, als Kinder zu unterrichten. Als Nachfolger stellte die Brigade einen jungen Mann ein, der im Frühjahr zuvor seinen Abschluss an der Mittelschule gemacht hatte. Er war sechzehn und hatte noch nie unterrichtet. Im Gegensatz zu Lehrer Lu, der Nachsicht mit den Kindern geübt hatte, war er ein strenger Zuchtmeister. Stets hielt er ein Lineal in der geballten Rechten, und wenn Schüler schwätzten oder falsche Antworten gaben, schlug er damit zu. Als ich Yicuns Klagen über den neuen Lehrer hörte, war ich froh über meinen Schulwechsel.
Die Mittelschule war größer als die Grundschule, sie bestand aus drei Gebäuden und war auch nicht aus Lehm, sondern aus Stein und Ziegel gebaut. Es gab drei Lehrerinnen. Am meisten freute es mich jedoch, dass noch zwei weitere Mädchen in meiner Klasse waren. Eine von
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