Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
in Hefei, dass das alles nur Lügen waren – Märchen und Hirngespinste, um Grausamkeit und Brutalität zu rechtfertigen. Doch ich musste mich der Schar der Gläubigen anschließen, um zu verhindern, dass sie mich weiter schikanierten. Es war eine Möglichkeit, mich dem Makel der politischen Vergangenheit meiner Familie zu entziehen. Damals glaubte ich, in China würde sich niemals etwas ändern, die Kulturrevolution würde endlos weitergehen. Wollte ich nicht das gleiche Leben wie meine Eltern führen, blieb mir keine andere Wahl, als mich mit den Herrschenden zu arrangieren. Sonst würde ich mich immer ducken und verstecken müssen.
Ich gab mir größte Mühe, meine Eignung nachzuweisen. Jeden Nachmittag putzte ich freiwillig den Boden in unserer Schule, nach jeder Unterrichtsstunde wischte ich die Tafel. Ich half anderen Schülern bei ihren Hausaufgaben. Am Ende jeder Woche hatte ich einen »Gesinnungsaufsatz« für die Ortsgruppe des KJV zu verfassen. Dann schrieb ich Dinge wie: »Diese Woche habe ich wieder die Worte des Vorsitzenden Mao gelesen. Besonders bedeutsam erschienen mir …« Dann reihte ich etwa ein Dutzend seiner Aussprüche aneinander. Natürlich lief das alles streng nach Schema ab, sogar die Kommentare, die ich über deren Bedeutung für mein Leben schrieb. Ich wusste, was von mir erwartet wurde, also schrieb ich es genau so, ganz mechanisch und unpersönlich.
Nachdem ich mehrere Monate lang meine Aufrichtigkeit und meine Begeisterung für die Sache demonstriert hatte, ließ man mich wissen, dass ich die Prüfung bestanden hätte. Ein Termin für die offizielle Aufnahmefeier wurde anberaumt. Dort sollte ich vor den anderen Mitgliedern einen Treueeid auf die Partei und den Vorsitzenden Mao leisten. Man teilte mir Tag und Uhrzeit der Zeremonie mit.
Ich war bereit gewesen, um der Mitgliedschaft willen hart zu arbeiten, doch ich sträubte mich dagegen, vor die anderen Schüler zu treten und jener Organisation die Treue zu schwören, die uns verfolgt hatte. Das brachte ich nicht über mich. Als der Tag der Zeremonie kam, meldete ich mich krank und blieb zu Hause. Das war meine Methode, mir meine Integrität zu bewahren. Als ich am nächsten Tag wieder zur Schule ging, überreichten mir Vertreter des KJV die Mitgliedsurkunde und beglückwünschten mich. Ein öffentlicher Treueeid wurde nie von mir verlangt. Am selben Abend erzählte ich meinen Eltern, was ich getan hatte, betonte jedoch, dass ich der Partei nicht die Treue geschworen hatte. Sie beglückwünschten mich ebenfalls.
Danach besuchte ich allwöchentlich die Mitgliederversammlungen des KJV . Und ich ließ mich mit anderen für das Gruppenfoto des Verbandes ablichten. Offenbar glaubte nun jeder, dass ich eine gute Kommunistin war.
Kapitel 41
D as Heiratsalter im Dorf lag bei sechzehn Jahren. Aber schon lange bevor ein Kind dieses Alter erreicht hatte, arrangierten die Eltern eine Ehe, die für die Familie möglichst vorteilhaft war. So einigte sich Jinlans Vater mit Alte Krabbe darauf, dass seine Tochter mit dem Sohn des Gemeinschaftsleiters vermählt werden sollte. Nach der Bekanntgabe der Verlobung waren Jinlan und Shuizi zu Tode betrübt. Da wandte sich Shuizis Vater an Jinlans Vater und fragte ihn, ob es keine Möglichkeit gebe, die Verlobung wieder zu lösen. »Du weißt doch, alle haben damit gerechnet, dass mein Sohn deine Tochter heiratet. Du weißt, wie sie einander anschauen. Und du hast ihn doch auch für sie singen gehört.«
Doch Shuizis Familie zählte zu den ärmsten des Dorfes, obwohl Shuizis Vater die Schule besucht und so gut abgeschnitten hatte, dass er Dorfgelehrter hätte werden können. Während des Koreakrieges war er zum Militär gegangen, und als er Ende 1953 ins Dorf zurückkehrte, hatte er sich völlig verändert. An einer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei hatte er kein Interesse, obwohl man ihn als Kriegsveteranen gerne aufgenommen hätte. Auch Schule und Bücher bedeuteten ihm nichts mehr. Mit dem fröhlichen jungen Mann, der 1950 fortgegangen war, hatte er nichts mehr gemein, sagten die Leute. Er war still geworden und arbeitete hart. Aus der Ehe mit einem Dorfmädchen ging Shuizi hervor. Er zog seinen Sohn allein auf. Da er weder Beziehungen noch eine Parteimitgliedschaft oder einflussreiche Verwandte in anderen Gegenden hatte, konnte er Jinlans Vater nichts bieten außer einer alten, angelaufenen Heldenmedaille und leeren Worten. Daher beschied ihm Jinlans Vater, er solle seinem Sohn ein
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