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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Blick.
    Nachdem sie verschwunden waren, wandte sich Alte Krabbe Shuizi zu und fragte: »Nun, was machen wir mit einem Vergewaltiger?«
    Niemand antwortete. Das Schweigen schien Alte Krabbe noch mehr zu reizen. »Ich zeig es dir«, sagte er, holte mit der Hacke aus und ließ sie auf Shuizis Schädel niedersausen. Der junge Mann stöhnte auf und schloss die Augen. Blut strömte ihm über Gesicht und Schultern, und er sackte zu Boden. Ehe Alte Krabbe erneut zuschlagen konnte, gingen mehrere Männer dazwischen. »Du bringst ihn noch um«, meinte einer. »Das hat er nicht verdient.« Alte Krabbe warf die Hacke beiseite, drängte sich an den Männern vorbei und trat immer und immer wieder auf den reglos daliegenden Burschen ein. Schließlich zerrten die anderen Alte Krabbe weg. »Das reicht, er hat seine Lektion gelernt«, sagten sie. Alte Krabbe versuchte, sie abzuschütteln, ließ sich dann aber von ihnen beruhigen. Er spuckte auf Shuizi. »Ich bin noch nicht fertig mit dir«, grummelte er, bahnte sich einen Weg durch die Menge und stapfte hinaus ins Sonnenlicht. Shuizi wurde von ein paar Männern aufgehoben und nach Hause getragen.
    Spätabends ging Alte Krabbe hinaus zur Latrine seiner Familie, um seine Notdurft zu verrichten. Während er im Dunkeln hockte, sah er plötzlich zwei nackte Füße vor sich, als wären sie urplötzlich aus der Erde gesprossen. Als er aufschaute, erblickte er zu seinem Entsetzen Shuizis Vater, der sich drohend vor ihm aufbaute. Er trug seine Militäruniform aus dem Koreakrieg, und über dem Herzen prangte die Heldenmedaille.
    Alte Krabbe rappelte sich hoch und fragte: »Was machst du so spät noch draußen?«
    Da schoss eine Hand vor, packte seine Kehle und zog ihn nach vorn. Die offene Hose fiel Alte Krabbe auf die Fußknöchel hinab. Shuizis Vater hielt Alte Krabbes Gesicht ganz dicht vor seines. Der Dorfchef rang um Atem, während ihn aus nächster Nähe zwei weit aufgerissene, hasserfüllte und wie Kohle glühende Augen anfunkelten. Alte Krabbe spürte den heißen Atem in seinem Gesicht. »Du widerlicher Haufen Hundescheiße! Ich sollte dich hier auf der Stelle ersäufen«, knurrte Shuizis Vater.
    Alte Krabbe fuchtelte wild mit den Armen, ohne jedoch seinem Angreifer etwas anhaben zu können. Und je mehr er sich wehrte, desto fester schlossen sich die Finger um seinen Hals. Ein letztes Betteln um Gnade ging in einem jämmerlichen Quieken unter.
    »Wenn du es noch ein Mal wagst, meinem Jungen auch nur ein Haar zu krümmen, bringe ich dich um. So sicher, wie die Sonne im Osten aufgeht, finde ich dich und mache dich kalt. Hast du kapiert?«
    Alte Krabbe antwortete mit einem verzweifelten Nicken. Shuizis Vater warf ihn zu Boden. Als der Angreifer so über ihm stand, war Alte Krabbe wie gelähmt vor Angst, er rührte sich nicht und brachte auch kein Wort heraus. Und so plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand Shuizis Vater wieder in der Finsternis.

Kapitel 42
    I m Lauf der nächsten Wochen wurde Shuizi von seinem Vater gesund gepflegt. Jinlans Vater verprügelte seine Tochter und warnte sie eindringlich davor, sich jemals wieder mit Shuizi zu treffen. Kurz darauf arbeitete sie wieder auf dem Feld.
    Eines Nachmittags sah ich Jinlan, wie sie einen Wasserbüffel durch ein nahe gelegenes Reisfeld trieb. Ich lief zu ihr, und wir beide stiegen auf den Rücken des Tiers, wo ich hinter ihr saß und die Arme fest um ihre Taille schlang. Anfangs schwiegen wir beide verlegen. Schließlich sagte ich: »Ich habe gehört, was passiert ist, Jinlan. Und es tut mir sehr leid. Shuizi ist ein guter Mensch.«
    Sie drückte meine verschränkten Hände und erwiderte: »Ich weiß, Yimao.«
    An einem Fluss machten wir halt, um den Büffel weiden zu lassen. Wir setzten uns ins Gras und ließen die Füße ins Wasser baumeln. Mir fiel ein, dass ich ein paar Jahre zuvor mit Chunying fast an derselben Stelle gesessen und ihr bei der Anfertigung ihrer Hochzeitsschuhe zugesehen hatte.
    »Was meinst du, wie es weitergeht?«, fragte ich Jinlan.
    »Mein Vater hat Alte Krabbe davon überzeugt, dass Shuizi mich vergewaltigt hat. Er behauptet, ich hätte nichts dafür gekonnt.«
    »Du meinst, sie glauben, es sei alles Shuizis Schuld gewesen?«, fragte ich.
    »Nicht allein seine«, antwortete sie. »Alte Krabbe und mein Vater sind zu dem Schluss gekommen, dass es das Werk eines Fuchsgeistes war.«
    Einer Legende zufolge war ein Fuchsgeist ein listiger Dämon, der auf der Suche nach einem Opfer durchs Land streifte. Wenn er

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