Feenkind
Lenuta, zu der wir unterwegs sind?" fragte Dhalia plötzlich. Die Frage lag ihr schon seit ihrem Aufbruch auf dem Herzen, doch bisher hatte sie ihn nicht danach fragen können.
Chris schwieg so lange, dass sie schon glaubte, er hätte ihre Frage nicht gehört. "Es ist eine lange Geschichte", sagte er schließlich.
Interessiert wandte Dhalia ihm ihren Kopf zu.
Der flackernde Schein des Feuers warf sein unregelmäßiges Licht auf ihr Gesicht, mal hell, mal voller Schatten. Dieses Wechselspiel brachte ihre Züge noch stärker zur Geltung, reduzierte sie auf die klare Essenz der Linien. Es wirkte reifer, erwachsener, femininer, so wie es wohl später einmal aussehen mochte, wenn sich die kindliche Naivität und Unschuld darin verlor. Und auch stellte Chris nun erstaunt fest, wie sehr sie sich in den Wochen ihrer Bekanntschaft bereits verändert hatte. Er hatte sie an der Schwelle des Erwachsenseins kennen gelernt, als sie zögernd ihre ersten Schritte hinaus in die Welt machte. Nun hatte sie ihre Kindheit weit hinter sich gelassen. Er wusste nicht genau, wann das passiert war, vielleicht war es schleichend vor sich gegangen oder mit einem Schlag irgendwann unter Sorins Obhut im Kloster, aber sie hatte sich verändert, das spürte er auf einmal ganz deutlich. Vielleicht hatte sie es auch gespürt und wich ihm nun deswegen aus, obwohl er ihren Grund dafür nicht kannte.
Und doch strahlten ihm ihre Augen wie zwei leuchtend grüne Sterne entgegen, mit unveränderter Intensität, wenn auch etwas sanfter als beim ersten Mal, als er sie erblickt hatte.
Dhalia spürte, dass ihn etwas beschäftigte, und nahm zögernd seine Hand. "Ihr müsst nicht sprechen, wenn Ihr nicht wollt, Chris. Aber ich werde Euch zuhören, falls Ihr es mir erzählen möchtet", schlug sie ihm vorsichtig vor.
Chris schloss kurz die Augen, als wollte er das Bild vertreiben, das sich ihm bot. Doch als er sie wieder öffnete, war Dhalias Gesicht unverändert vor ihm. Er erhob sich abrupt und machte ein paar Schritte um das Feuer herum. Dann setzte er sich wieder hin, vermied es jedoch, sie anzusehen.
"Vor ungefähr einem Jahr", begann er schließlich zu erzählen, "habe ich von der Ruine von Morgok gehört - einer Stadt der Alten Feen, tief im Feenreich verborgen. Ich hatte schon viele Legenden und Gerüchte gehört, doch niemand wusste, wo man sie finden und wie man sie betreten konnte, denn im Feenreich, müsst Ihr wissen, gelten ganz andere Gesetze als bei uns. Zugänge zu ein und demselben Ort könnten in den verschiedensten Teilen des Reiches liegen. Entfernungen, Zeit, all das spielte für die Alten Feen keine Rolle. Und nun sollte das Siegel an einem der Zugänge nachgelassen haben. Damals habe ich mich noch gewundert, wieso mein Informant mir sein Wissen verkauft hatte. Heute weiß ich es besser. Es war Wahnsinn gewesen, mich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Trotz all meiner Erfahrung und Vorbereitung hatte der Einsatztrupp mich geschnappt, noch bevor ich das geschwächte Siegel überwinden konnte. Sie hatten überall besondere Alarmzauber aufgestellt, die jeden Eindringling von Weitem aufspürten." Er lachte bitter auf. "Ich kann mich noch genau erinnern, welchen Spaß es Eliza gemacht hatte, mich ausführlich über meine Dummheit aufzuklären." Er verstummte kurz.
Beim Klang von Elizas Namen hielt Dhalia gespannt die Luft an. Daher kannte er sie also.
"Ja, Eliza ist sehr sorgfältig in allem, was sie tut. Ihr Verhör hinterlässt keine sichtbaren Narben, doch sie sorgt dafür, dass man die Lektion, die sie einem erteilen will, niemals vergisst."
Mitfühlend berührte Dhalia ihn an der Schulter. Als er zu ihr herübersah, merkte er, wie sehr sie seine Erzählung schockierte. "Ich will damit nicht sagen, dass es ihr Spaß gemacht hatte, oder dass sie zu überflüssiger Grausamkeit neigt. Sie ist bloß äußerst ... gewissenhaft. Und sie hat eine wahre Begabung dafür, die Gedanken und Ängste ihrer Gegner zu erkennen und für ihre Zwecke zu nutzen. Niemals zuvor in meinem Leben habe ich mich so hilflos und bloßgestellt gefühlt, als hätte sie mein Innerstes nach außen gekehrt, um nach Belieben darauf zu spielen." Chris verstummte wieder, ein Schauer rannte durch seinen gesamten Körper. Er schwieg eine lange Zeit, als versuchte er, der Erinnerungen, die ihn überströmten, Herr zu werden und Kraft dafür zu sammeln, sie für Dhalia in Worte zu fassen. "Und dann brachte sie mich nach Alandia", sagte er schließlich tonlos, als wäre damit alles
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